Haha! Nicht übel, was man in der Warteschlange für Gesichter sieht. Mein Gesichtsausdruck scheint der einzig normale zu sein (wobei, das Wort normal ist schon sehr gefährlich in diesem Zusammenhang). Ich glaube, ich schaue meistens etwa zu 30% gleichgültig, zu 47% verträumt und zu 22% freundlich. Egal, ob das jetzt aufgeht, denn irgendwo ist meist noch ein Hauch Nervosität dabei, so zwischen 2 und 13%. Ist ja auch egal.

Die anderen Leute um mich herum, die übrigens aussahen wie eine Gruppe Leistungsschwimmer, hatten alle einen unfassbar komischen Blick drauf. Sie schauten in Richtung der Kasse, vor der wir anstanden. Ihre Münder waren geöffnet (es waren so ca. 14 Männer, alle etwa gleich groß), die Augen weit aufgerissen, die Stirn ganz glatt. Ein Staunen, wie es im Buche steht.

An der Kasse ereignete sich etwas für sie ungewohntes, noch nie dagewesenes. Ich kannte die Frau, die dort hinter der Theke stand (Theke? Mir fällt das Wort nicht ein!) und wusste, sie hatte eben andere Gewohnheiten.

Sie wollte unbedingt ein Baum sein. Das hatte sie mir schon bei der ersten Gelegenheit gesagt, als wir miteinander sprachen. Ich konnte sie durchaus nachvollziehen. Bäume genießen hier einen großen Stellenwert (Bei Papier- und Palmölherstellern vielleicht nicht, aber an Palmöl denkt ja hier niemand). Weihnachtsbäume sind so beliebt, dass sie in einer Art Massenbaumhaltung herangezüchtet werden. Und – analog zur Massentierhaltung – werden sie gedopt, nicht mit Antibiotika, sondern mit Pestiziden (außer sie sind Bio). Naja, ein Weihnachtsbaum wollte sie auch sicher nicht sein. Mit Plastiklametta behängt, mit Kerzen verkokelt, von Hauskatzen zerpflückt werden, um nach ein paar Wochen halb vertrocknet am Straßenrand zu liegen? Iiiih.

Was tat sie nun hinter der Kasse? Ehrlich gesagt, ich kann es nicht sagen. Weil ich so beschäftigt war, mich über die Gesichter der Leute lustig zu machen, habe ich nicht hingeschaut. Erst nachdem die Warteschlange bis zu mir vorgerückt war und die Leistungsschwimmer stumm den Raum verlassen hatten, konnten wir miteinander sprechen.

„Hey du“, sagte ich und umarmte sie, so gut es eben ging mit der Theke dazwischen. „Was hast du eben gerade gemacht? Hast du gesehen, wie die Leute dich angeschaut haben?“

Sie sah mich an. Das mochte ich an ihr, dass sie mich so neugierig anschauen konnte mit ihren riesigen Augen.

„Ähm“ sagte sie und schaute verdutzt, als ob sie sich nicht sicher war, ob sie überhaupt etwas gemacht hatte. „Ja… Ja, ich habe etwas gemacht, warte mal… Du meinst, als ich meine Armbanduhr auseinandergenommen habe? Das war doch nichts seltsames, oder?“, sagte sie unsicher.

„Nicht direkt. Hm. Warum das so erstaunlich war für die Leute hier, kann ich jedenfalls nicht erklären.“

Wir grübelten beide. Ich stellte mir vor, wie sie, die hier bei der Post die Briefmarken auszuteilen hatte, seelenruhig innehielt, um ihre Armbanduhr auseinanderzunehmen, Teil für Teil, und wie sie diese Teile ordentlich nebeneinander legte, sie betrachtete und die Uhr anschließend wieder zusammenbaute. Wobei, ein wenig schwierig war es schon, sich das vorzustellen, eigentlich aber auch nur weil sie nicht ordentlich war und wenn die winzigen Teile der Uhr nicht ordentlich herausgekommen wurden, wie sollten sie dann wieder…

Ein Räuspern erklang. Ein herrliches falsches Räuspern wie aus einem herrlichen falschen Film.

Der Mann, dem das Räuspern gehörte (ja, es war seins bis zum Ende aller Tage, mit Copyright und so), kam aus der dunklen Ecke links von uns, wo er sich versteckt hatte. Er hatte einen grauen Anzug an und so schwarze Schuhe, die aussahen, als hätte er … ach was, das ist jetzt nicht so wichtig. Viel auffälliger war, dass er eine wunderschöne Krawatte trug, die ein geradezu psychedelisches Muster aus roten, purpurnen und violetten Linien hatte. Außerdem waren seine Haare voll und schulterlang, vielleicht auch ein wenig verfilzt, wer weiß. Eine Armbanduhr trug er nicht, dafür schien sich in seiner Anzugtasche, der feinen Wölbung nach, eine Taschenuhr zu befinden. Uhren, dachte ich.

„Uhren“, sagte er. Er grinste. Meine Freundin schrak scheu zurück und versteckte sich hinter der Kasse, wie eine eingeschüchterte Katze.

Er flößte mir Respekt ein, und so hörte ich zu. Mit dunkler Nachrichtensprecherstimme erzählte er.

Jedenfalls setzte er sichtbar zum Erzählen an, konnte es dann aber anscheinend nicht mehr halten und stieß ein gackerndes Lachen aus. Er beugte sich dabei nach vorne, hielt sich die Hand vor den Mund und kniff die Augen zusammen. Soviel zu seiner Selbstbeherrschung, dachte ich.

„Äh, ja, entschuldigung. Ich finde es einfach köstlich, euch so überrascht zu haben. Wie der Geist der Postfiliale oder so. So genial ist es mir noch nie gelungen“, rechtfertigte er sich.

„Aber weshalb ich eigentlich hier bin, auch wenn ihr schon geschlossen habt – ja, ich muss euch einfach noch etwas sagen. Es kann nicht sein, dass ich euch ohne ein paar Klarstellungen gehen lasse.“

Wir lauschten ihm, höflich, wie einem Lehrer. Sein Blick wurde ernst.

„Es kann nicht sein, dass ihr hier vor aller Augen Uhren auseinanderbaut. Ich weiß, das hast nur du getan, aber so wie du aussiehst“ – er musterte mich – „, weißt du wohl auch nicht, dass das nicht geht.“ Zweifellos, dachte ich. Wie sah ich denn aus, dass man mir ansah, dass ich – hää?

„Aber warum ist das denn verboten? Das habe ich noch nie gehört!“, meldete ich mich zu Wort. Es war einfach zu abstrus.

„Weil Uhren heilig sind. Das ist so. Nun, wenn ihr diese Gesellschaft hier noch nicht richtig kennt, bin ich gerne bereit, euch mehr zu erzählen.“ Er blickte uns aufrichtig an, ein wenig wie als würde er Grundschülern anbieten, etwas über die menschliche Fortpflanzung zu erzählen.

„Gerne. Ich wüsste es wirklich gerne.“, sagte meine verängstigte Freundin leise.

Wir beschlossen, für das Gespräch in den anliegenden Büroraum zu gehen. Die Post hatte geschlossen, und so war es angenehm still. Das Büro sah eher wie der Leseraum in einer Bibliothek aus, denn es gab einige rote Sessel von der Ich-Saug-Dich-Ein-Uaah-Sorte. Der Raum war klein und nur von einer altmodischen Stehlampe beleuchtet. Bücher gab es natürlich keine, nur Lottoscheine oder sowas in der Art zum Ausfüllen an einem Tisch. Die Bürokratie hatte die Postfiliale durchdrungen, das war deutlich spürbar, vielleicht am Geruch des Frischfaserpapiers. Wir setzten uns, entspannten uns, und der Mann begann zu erzählen.

„Also, ich schau mal, ob ich das einigermaßen geordnet hinkriege. Zuallererst, ich bin Walter. Ich bin gleichzeitig ein Ver-Walter, jaja, damit ziehen mich meine Freunde immer auf, und ich bin beim Staat angestellt. Meine Aufgabe ist es, Zeit zu verwalten. Niemand hat die Absicht, um das gleich zu sagen, den Menschen die Zeit zu stehlen. Wir leben nicht in der Welt von Michael Endes ‚Momo‘. Aber verwalten müssen wir sie trotzdem, denn die Menschen alleine können das nicht mehr. Das hat etwas mit der menschlichen Zeitwahrnehmung zu tun, die mehr als ungenau ist. Alles in allem führt diese rigorose Verwaltung und Einteilung der Zeit dazu, dass Uhren überlebenswichtig und somit heilig sind. Ich kann es euch nur so verkürzt erklären, alles andere würde zu weit führen, aber – ihr habt doch sicher verstanden?“

Wir beide nickten.

„Genau. Und seit diese Sache mit der Verwaltung eingeführt wurde, ist es mit der Zeit etwas besser geworden. Die Leute haben keine Störungen des Biorhythmus mehr, weniger Stress, und Ausreden von der Art ‚Tut mir Leid, ich habe keine Zeit‘ sind auch seltener geworden. Umfragen zeigen aber, dass die Leute dennoch nicht ganz glücklich sind. Vielleicht ist das normal, dachten wir, vielleicht gehört Nicht-Glück einfach zum Leben dazu. So ist es eigentlich auch, aber man kann trotzdem ein grundlegendes Bedürfnis in der Bevölkerung feststellen, was nicht erfüllt ist – wieder durch Umfragen.“

An dieser Stelle hielt er inne. Ich wunderte mich, warum der Staat auf einmal so bemüht um das Glück seiner Bürger war. Sehr interessant, in was für einer Gesellschaft ich gelandet war. Ein seltsames Gefühl begann bei diesem Gedanken in mir hochzukriechen, ich versuchte, es zu ignorieren. Der Mann fuhr fort.

„Also, was sie – das sind die Leute von der Forschung – feststellten, ist, dass den meisten Leuten ‚etwas fehlt‘. Ja, so drücken sie es aus. Es ist alles schön und gut, das Essen, die Wohnung, die Liebe ist da, was braucht es noch? Dieses Etwas. Ich weiß nicht, kennt ihr diese Bedürfnispyramiden?“, fragte er.

Meine Freundin kannte natürlich nichts dergleichen, ich jedoch schon. Aus dem Ethikunterricht, glaube ich.

„Also, ja, ist ja auch egal, jedenfalls war ich sehr erstaunt darüber, dieses Etwas nicht darin erkennen zu können. Die Menschen scheinen sich nach diesem Etwas zu sehnen, wenn sie schon irgendwie alles haben.“ Er machte eine Pause, dachte kurz nach. „Jetzt ist es passiert, ich bin abgeschweift. ich wollte euch was von dieser Gesellschaft erzählen. Puuh, ganz schön schwierig.“ Ein entschuldigendes Grinsen.

„Was, glaube ich, noch wichtig ist zu erwähnen, ist, dass es hier wenig Regeln gibt. Es gibt auch wenig Privateigentum. Deshalb sind die Leute auch überall am herumklettern, man darf ja überall rauf. Vor vier Jahren gab es außerdem eine Überschwemmung, wegen dem Meeresspiegel, ihr wisst schon, deshalb ist ein großer Teil des Landes und der Stadt unter Wasser. Das nennen wir ‚Wasserland‘ und die Leute dort machen ihr eigenes Ding. Eigentlich macht sowieso jeder sein eigenes Ding hier. Einen König haben wir trotzdem. Er ist Anhänger alter ägyptischer Götterkulte, deswegen stehen auf großen Plätzen und auch auf total unbedeutenden Plätzen riesige Statuen der Götter. Sie müssen so behandelt werden, als wären sie hochrangige Persönlichkeiten. Die Natur ist ebenfalls heilig. Jeder und jede Gemeinschaft muss Landwirtschaft für sich selbst betreiben oder draußen sammeln gehen. Pflanzen können in Töpfen gehalten werden, werden dann aber so gut behandelt wie Haustiere. Ausgesetzte Pflanzen werden aus Anstand vom Ersten, der die findet, aufgenommen. Häuser und andere Gebäude dürfen die Pflanzen nicht unterdrücken. Die Pflanzen dürfen das Haus überwuchern oder bekommen einen Platz auf dem Dach. Sie werden einfach umgepflanzt.“

Hier musste ich nachfragen: „Aber ist das nicht unlogisch? Landwirtschaft im Sinne von Beeten und Äckern unterwirft die Pflanzen doch zutiefst!“

Er hatte eine Antwort parat. „Irgendwo müssen sie den Menschen dienen, das stimmt. Sie müssen aber ein gutes Leben gehabt haben. keine Monokultur also, eher Permakultur oder etwas noch urtümlicheres. Wie dem auch sei, das ist eine Sache. Tja, was müsst ihr noch wissen? Wie in jeder Gesellschaft gibt es auch hier unterschiedliche Ansichten, verschiedene Ethnologien, Mehrheiten und Minderheiten. Ihr werdet sicher einige von ihnen kennenlernen. Nach der Überschwemmung gehen die Leute, da sie so viel zusammen arbeiten und aufbauen müssen, relativ gut miteinander um. Es gibt auch ein paar junge, ganz spezielle Gruppen hier, die von außen quasi mit dem Wasser hergeschwemmt wurden. Eine werdet ihr sofort erkennen; sie können fliegen. Ansonsten sei euch noch gesagt, dass manche Dinge nach der Überschwemmung noch nicht ganz funktionieren, das Eisenbahnnetz zum Beispiel. Viele Linien führen quasi ins Nichts und die Bahnhöfe haben keinen Anschluss und sind verfallen. Auch ein paar alte Häuser an der Peripherie müssen dringend renoviert werden und stehen leer.“ Wieder ein Innehalten, er überlegte, ob er etwas vergessen hatte. Mir schwirrte der Kopf.

„Hm, ja, ich denke, das war das Wichtigste. Etwas falsch machen könnt ihr eigentlich nur, wenn ihr den Götterkult des Königs missachtet. Ich mache euch mal eine Liste mit den Dingen, die heilig sind und besonders behandelt werden müssen.“

So sprach Walter, dann stand er auf, holte vom Tisch mit den Lottoscheinen einen kleinen Zettel und einen Kugelschreiber von der Post und machte uns eine Liste mit etwa fünfzehn Stichpunkten. Während der Verwalter im grauen Anzug gesprochen hatte, war meine Freundin vollkommen still gewesen. Ich vermutete, dass sie den gleichen Gedanken hatte wie ich: Wie, verdammt noch mal, waren wir hier her in diese Gesellschaft gekommen?