Ich kam aus Leipzig. Dort hatte ich jemanden besucht. Ich war viel zu spät gekommen, hatte irgendeinen Bus verpasst und nicht richtig gepackt. Zum Beispiel keine Klamotten. Es war mir zu spät aufgefallen, dass man fürs Reisen Klamotten braucht. In Träumen schaffe ich es so oft, meine Klamotten zu verlieren. Das war aber nicht schlimm, ich sollte nämlich nicht lange bleiben – der Grund dafür blieb mir unbekannt.
Mit meinen wenigen Sachen hatte ich mich im dritten Stock oder so eingerichtet, ich hatte dort eine kleine Kammer. Eine Weile allein sein, das dunkle Zimmer betrachten, Bücherregale anstarren. Dann ging ich die Holztreppe nach unten. Eine Frau war gerade dort in der Küche beschäftigt, sie erklärte mir, ich müsste wieder gehen – sie hatte so einen Gesichtsausdruck, irgendwie ernst. In Ordnung, dachte ich mir, und begab mich nach unten, nach draußen.
Ich meine, von Leipzig nach Berlin ist es ja nicht sooo weit, trotzdem – es wurde eine Odyssee. Ich träume sehr oft von Zügen. Wer weiß, vielleicht habe ich ja ständig Lust, zu reisen. Vielleicht bin ich ein Nomade. Ein Deutsche-Bahn-Nomade.
Nach vielen verlassenen Bahnhöfen – an diesen Teil der Reise erinnere ich mich nicht – gelangte ich an die Grenze von Berlin. An die nördliche Grenze. (Ich hab‘s auch mit dem nördlichen Brandenburg irgendwie. Was will mein Unterbewusstsein mir sagen?) Meine Mutter war bei mir. Es war schon sehr spät, mitten in der Nacht. Wir hatten sehr wenig Geld dabei, ich etwa fünf Euro, sie noch weniger. Der Zug hatte uns irgendwo im Nirgendwo ausgespuckt. Egal, wir wollten weiter – laufen nach Berlin!
Ein Glück, dort stand eine Karte. Aus Holz, vergilbt und von der Sorte, wie sie manchmal an Wanderwegen stehen. Berlin war riesig, die Größe unübersichtlich und erdrückend. Die Stadt war bestimmt doppelt so groß wie in echt und auch die Form leicht verändert, wie ein unregelmäßiges Oval. Obwohl die Karte weniger als einen Meter groß war, zeigte sie alle Straßen der Stadt. Ich hatte unseren Standort schnell gefunden. Mittig, Nördlich. Ich merkte mir die Straße, die uns in das Zentrum führen würde. Das war schon cool, normalerweise merke ich mir sowas nie.
Die Einreise wurde uns richtig schwer gemacht. Statt einem, waren an jedem Wegweiser drei Straßennamen angebracht. Sie wiesen auf Straßen, die man im Dunkeln erst suchen musste, um sie als Straßen zu erkennen. Ich musste stets überlegen, wo es nun weiterging. Das chaotische Straßennetz legte es geradezu darauf an, dass man sich verirrte. Wir mussten immer nur geradeaus, stellte ich fest. Eine Kirche tauchte links auf. Groß und dunkel. Es war kurz nach vier Uhr morgens. Doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass dieser dörfliche Teil Berlins noch wach war.
Das Gefühl bewahrheitete sich, als wir eine Einkaufspassage erreichten. Wie an einem Bahnhof sah es aus. Von außen sah ich in einen Laden, der billige Kleidung verkaufte und gleichzeitig, so schien es, Blumen und Backwaren. Eine Art Super-Kiosk. Und dort drinnen waren Menschen, sie suchten sich Klamotten aus als sei es die allgemein anerkannte Tageszeit dafür. Auch in anderen Läden gab es noch Kunden. Ich staunte.
Als ich mich von dem bunten Treiben losgerissen hatte, bemerkte ich, dass unsere Straße zu Ende war. Sie endete einfach in einer Wand. Keine Mauer, sondern eine Wand wie in einer Wohnung, mit hässlicher blauer Tapete. Leichte Panik erfasste mich: Wie sollten wir weiter? Wie kamen wir nach Hause?
Ich beobachtete die Wand weiter und sah nun auch, dass neben ihr eine Art Schalter war. Eine Frau mit schwarzem, kurzem Haar saß dort hinter der Glasscheibe und verkaufte Tickets. Der dreißigjährige Mann, der gerade eines kaufte, schien die Prozedur gewohnt zu sein. Er zahlte, nahm das weiße Stück Papier und wandte sich der Wand zu. Ich wusste, dass er dort hindurch gehen konnte! Und tatsächlich: Die Wand teilte sich, wie die Türen eines Aufzugs. Er war verschwunden.
Es kam nun darauf an, ob unser Geld reichte. Ich kratzte das Münzgeld förmlich zusammen, zählte es ab und gab der Frau fünf Euro. Der Mann hatte glaube ich auch so viel gezahlt. Meine Mutter schaute auch nach Geld, doch das war nicht mehr nötig, denn ich hatte schon zwei Tickets erhalten. Wunder oh Wunder, wieso zwei? Das war ja super! Die Frau am Schalter schien richtig nett zu sein. Sie sah uns an, dass wir von woanders her kamen (ich glaube, wir waren im Berlin der Zukunft gelandet). Meine Mutter kramte noch in ihrer Brieftasche herum. Die Wand ging auf, jetzt wo ich das Ticket hatte. Schnell, gab ich ihr zu verstehen, wir müssen durch, sonst schließt sie sich wieder! Ich nahm ihre Hand.
Auf der anderen Seite war es hell, die Sonne schien. Im Nachhinein sehr seltsam, dass mich das nicht wunderte. Wir waren umgeben von reichlich Grün, schönen Bäumen, einem Park. Beide rätselten wir, wo wir gelandet waren. Der Park war wie ein Tal, riesig, sogar kleine Hutzelhäuschen fanden darin Platz. Bevor wir weiter rätselten, drehten wir uns um in die Richtung, aus der wir gekommen waren, aus reiner Neugier. Rechts neben dem Ausgang, der ominösen Wand, die jetzt aber ein Tor in einem schwarz angelaufenen Steinbau war, war ein Schild angebracht. Es zeigte Verbindungen. Eine Liste von Orten, zu denen man über Tapetenwände wie dieser hier gelangen konnte. Aus dem Schild ging hervor, dass Ungarn und Berlin nun irgendwie eine Einheit bildeten. Staun, staun. Anscheinend waren wir wirklich in der Zukunft gelandet.
Wieder betrachtete ich den Park – mir wurde klar, dass ich mit meinem Vater schon einmal hier gewesen war. Ein grüner Pavillon mit Ziegeln aus heller Keramik stand ganz in unserer Nähe und ich erkannte ihn wieder. Wir sind im Tiergarten!, schoss es mir durch den Kopf und ich sagte es meiner Mutter. Nun erkannte ich noch mehr: Die Kirche dort, die ist doch auch in Mitte! Und dort, die Nikolaikirche! Meine Mutter erkannte sie auch. Ich stellte mir vor, dass wir durch den Tiergarten laufen konnten und zum Alexanderplatz. Alles erschien so nah, erreichbar, greifbar. Die Welt schien keine Grenzen zu haben. Ich fühlte mich zu Hause.
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