Tja, denke ich, die Petersilie sieht auch nicht mehr aus wie neu. Man müsste sie mal gießen. Oder halt, es heißt nicht: Man müsste mal – man macht es einfach. Ich nehme also ein Glas Wasser und gieße die Petersilie. Hm. Eigentlich wollte ich doch etwas anderes machen. Aber was? Na, sei´s drum. Ich nehme mir die Zeitung, die sich auf dem Tisch geradezu anbietet, werfe den Wirtschaftsteil über meine Schulter auf den Boden – das macht Spaß – und lese den Wissenschaftsteil.
Ah, interessant. Fliegende Pflanzen? Soso. Wieder etwas neues. (Ich überfliege den Artikel und kann ihn teilweise nicht ernst nehmen, weil ich immer über diesen Stil in der Zeitung lachen muss, immer diese langen, verschachtelten Sätze mit den vielen Kommas, da stelle ich mir immer eine Nachrichtensprecherin vor, die das so auf diese Weise betont, dass man sich nicht darauf konzentrieren kann, was sie sagt. ) Diese Pflanzen jedenfalls hat man kürzlich im Regenwald entdeckt. Sie drehen ihre Blüten wie Sonnenblumen immer zum Sonnenschein und sie drehen sich weiter und weiter, bis sie sich ganz eingedreht haben. Wenn sie von Insekten befruchtet werden, lösen die Krabbeltierchen den Pflanzenstängel und schlagartig entzwirbelt sich das Pflänzchen wieder – so schnell, dass es wie ein Propeller nach oben saust. Dann findet es einen Platz auf den Baumkronen und verbreitet dort seine Samen. Unheimlich, was es alles gibt. Und ich weiß immer noch nicht, was ich eigentlich vorhatte. Noch einmal Schritt für Schritt: Ich bin vom Schlafzimmer aus in die Küche gekommen, währenddessen habe ich nachgedacht über – ach ja, jetzt weiß ich es wieder, es war dieser Mann, der immer schräg hinter mir im Bus sitzt und sich Musik anhört und dabei immer die Augenbrauen zusammenzieht. Na gut, das hilft mir nicht weiter. Auf meiner inneren To-do-Liste steht allerdings sowieso noch genug Anderes. Zum Beispiel muss ich in die Stadt fahren, um ein Päckchen abzuholen. Meine Freundin aus Dänemark hat mir schon wieder neue Kassetten geschickt. Keine Ahnung, warum immer Kassetten, aber es ist mir egal, ich würde mich auch über Disketten freuen. Obwohl… ich nicht weiß, wozu die gut sind. Hm.
Ich lasse die Zeitung auf dem Boden liegen und gehe hinaus. Wo ist eigentlich die Postfiliale? Ich gehe zum ersten Mal dort hin. Wahrscheinlich hat sie zu viele Kassetten auf einmal verschickt und sie werden deshalb nicht zu mir nach Hause gebracht.
So was blödes. Die Stadt ist ja nicht groß, aber es ist nur ein Weg, den ich bisher kenne, das ist dort, wo der Bus immer langfährt, der Bus, in dem der Mann mit den Augenbrauen auch immer sitzt.
Der Bus allerdings, überlege ich, fährt doch so ungefähr ins Stadtzentrum, vielleicht ist da die Post. Ich muss nur dem Weg folgen, den ich immer fahre, ich orientiere mich an den Häusern, die ich vom Busfenster aus sehe, und wenn ich eine Haltestelle sehe, weiß ich, dass ich richtig bin.
Ein guter Plan, und außerdem mein einziger. Ich setze mich aufs Fahrrad und fahre los. Na, das klappt ja prima bisher. Den Weg erkenne ich sofort. Es ist kurz vor der Stadtgrenze. Ich erkenne die Häuser: Das Holzhaus hinter den Tannen, das mir so gut gefällt – das mich aber auch, wer weiß warum, an das Hexenhaus bei Hänsel und Gretel erinnert – , das weiße, kastenförmige Haus hundert Meter weiter, das aussieht, wie, naja, ein weißer Kasten – und das unscheinbare Haus mit den roten Dachziegeln, von denen genau einer fehlt. Diese Lücke kann man wunderbar im Vorbeifahren anstarren.
Ich fahre bis zur Stadtgrenze. Eine Haltestelle. Ich fahre weiter und biege links ab auf einen Weg aus grobem Kopfsteinpflaster. Es ruckelt, das Fahrrad scheppert fürchterlich. Trotzdem blicke ich mich erwartungsvoll um, um zu sehen, ob ich die Häuser erkenne. Mal schauen… dieses Haus, das große, könnte das Einkaufszentrum sein. Ich erinnere mich deutlich daran, wie ich immer mit dem Blick die Fensterscheiben streifte. Sie sind bronzefarben getönt. Scheint der richtige Weg zu sein – denke ich, bis mit etwas auffällt.
Was ist das? Die bunten Markisen und Sonnenschirme fehlen, die Wand ist dunkler als ich sie in Erinnerung habe. Auf dem flachen Dach erhebt sich ein Wald aus silbrig schimmernden Antennen. So etwas habe ich noch nie gesehen.
Das ganze Gebäude wirkt auf einmal dunkler. Bin ich hier richtig? Ich sehe mich um und kann keine Haltestelle entdecken.
Ich habe mich verfahren, so plötzlich. Dabei bin ich erst einen Kilometer in die Stadt eingedrungen.
Na schön, denke ich, so schlimm kann man sich hier wahrscheinlich gar nicht verirren. Schließlich gibt es hier Schilder und Menschen, die man nach dem Weg fragen kann. Man ist nie verloren. Und da ich sowieso nichts zu tun habe – die innere To-do-Liste drängelt heute mal nicht – und weil ich neugierig bin wie ein Kätzchen, fahre ich nicht zurück, sondern erkunde diese Straße. Schon seltsam, dass ich zuerst dachte, dieses Haus sei das Einkaufszentrum. Vielleicht habe ich nur auf die getönten Fensterscheiben geachtet. Aber jetzt, wie ich so langsam an der Fassade vorbeischeppere, habe ich den Eindruck, dass das Gebäude immer abstrakter und fremder wirkt. Neben den merkwürdigen Antennen kommen auf einmal riesige Schornsteine zum Vorschein – ohne Rauch. Ich wende den Kopf, werfe einen letzten Blick darauf und scheppere auf den Bürgersteig.
Die Straße ist nicht so interessant, wie ich sie mir vorgestellt habe. Sie ist vor allem so menschenleer und still, als wären alle bei einem Volksfest. Es gibt Bäume – man sieht sie zwischen den Häusern – ,die rote Blätter haben und in deren Ästen Turnschuhe hängen. Ich stelle mir spielende Kinder vor, die die Turnschuhe anderer Kinder nach oben in den Baum werfen, um sie zu ärgern. Spielende Kinder, denke ich plötzlich, passen nicht in diese Straße. Sie ist zu dunkel. Ja, jetzt fällt es mir auf, was mich hier so beklommen macht: Es ist einfach farblos, wie im November, wenn die letzten Blätter braun geworden sind. Die Häuser sehen aus, als gebe es niemanden, der sie bewohnt. Und dann diese Schuhe!
Es ist nicht so, dass es hier düster oder unheimlich wäre, es ist nur so, dass ich mit Bestimmtheit weiß, dass etwas fehlt. Licht vielleicht, oder… Hundewelpen.
Mit anderen Worten: Wäre dies eine Szene aus einem Film, käme jetzt sicher der Satz: Hier stimmt doch etwas nicht!“. Aber ehrlich gesagt habe ich Angst, diesen Satz auszusprechen, denn immer, wenn in einem Film oder Buch jemand sagt: “Hier stimmt etwas nicht“ oder „Mit ihm stimmt etwas nicht“, dann passiert auf jeden Fall etwas schreckliches.
Aber zum Glück hört das „Hier stimmt etwas nicht“-Gefühl schon bald auf, ich komme nämlich an das Ende der Straße. Die Sonne ist nicht mehr von den Häusern verdeckt, ich fahre durch einen Sonnenstrahl und genieße ihn wie nach einem langen Winter. Vor mir sehe ich einen Park. Grüne Wiesen und geschwungene Wege. In der Mitte ein Teich mit wild wucherndem Schilf. Ich liebe diese Rohrkolben, die aussehen, wie dicke Zigarren oder was auch immer.
Ein Park mit grüner Wiese – tausendmal besser als eine dunkle Straße. Erleichtert schiebe ich mein Fahrrad über den Sandweg, nehme kaum wahr, dass immer noch kein Mensch zu sehen ist, und stelle es an einer Parkbank ab. Ich gehe zu dem kleinen Teich und berühre einen Rohrkolben. Was für ein lustiges Gefühl! Ich muss lachen, denn einen Rohrkolben zu berühren, die Idee hat schon was.
Das Schilf raschelt, als ich es zur Seite schiebe. Ich will das Wasser sehen. Es ist trüb, voller Wasserpflanzen. Auf den Seerosenblättern sitzen Frösche, die nicht quaken. Frösche! Super, denke ich, endlich ein Lebewesen zu sehen, das mich wahrnimmt. Die Frösche sitzen dort wie Skulpturen. Ihre warzige Froschhaut ist braun, auf dem Rücken haben sie gelbe Streifen. Auch wenn ich sonst nur selten Frösche sehe, finde ich, dass sie ulkig aussehen, wie aus dem Regenwald oder so, jedenfalls nicht heimisch. Aber was macht das schon?
Das beste an diesem Park ist, dass es eine Karte gibt. Eine Tafel, die aufgestellt wurde, auf der man die Stadt von oben sehen kann. Ich habe sie gerade erst entdeckt und renne sofort dorthin.
Ich sehe, eingerahmt von verwittertem Holz, ein riesiges Netz aus Straßen. Erstaunlich, wie groß die Stadt ist! Und wo bin ich eigentlich? Ich suche den grünen Fleck, der vielleicht mein Park ist, aber ich finde ihn nicht. Es gibt so viele grüne Flecken zwischen grauer Häusermasse und so unendlich viele Straßen. Und ob ich die Grenze zu meinem Dorf finde, wo ich hergekommen bin? Merkwürdig, aber ich kann die Grenzen nicht einmal erkennen.
Na schön, dann muss ich vielleicht doch umkehren.
Und wohin? Zurück zu der dunklen Straße mit den Turnschuhen in den Bäumen? Nein! Selbst wenn ich noch eine Stunde hier herumirre, ich fahre auf jeden Fall einen Umweg um diese Straße herum. Merkwürdig, wie man vor so etwas wie Turnschuhen Angst haben kann, nur weil sie auf Bäumen hängen. Ich sinne kurz darüber nach, darüber, was wäre, wenn es Menschen gäbe, die in einer Welt aufwachen in der in jedem Baum Turnschuhe hängen wie bei uns Meisenknödel, wo das völlig normal ist. Vielleicht leben in der Straße ja solche Menschen. Obwohl es ja nicht so aussah, als würde überhaupt irgendjemand dort leben. Diese Menschen jedenfalls würden sich wirklich nicht um diese Turnschuhe Gedanken machen, so wie ich das gerade tue. Ich muss aber auch zugeben, dass ich manchmal über Meisenknödel nachdenke. Das heißt, darüber, was die Vögel gerne fressen und ob ich diesen Winter auch mal daran denken sollte, Meisenknödel aufzuhängen. Aber eher seltener über die Merkwürdigkeit, dass so etwas wie ein Meisenknödel existiert und dass es Meisen gibt die ihn fressen und Menschen die ihn herstellen. Und wie lässt sich das mit Turnschuhen vergleichen? Mir schwirrt der Kopf!
Jedenfalls – genug vor der Karte herumgestanden.
Ich fasse also den Beschluss zu gehen.
Und kann doch nicht.
Denn: Gerade dann klingelt meine Fahrradklingel, ohne mein Zutun.
Warum ich deshalb nicht gehen kann? Natürlich, weil ich mir denjenigen ansehen muss, der an meiner Fahrradklingel geklingelt hat.
Ich drehe mich also lautlos um und blicke dem Mädchen direkt in ihr Gesicht. Wir schweigen uns an. Ihre Hand ruht auf der großen, silbernen Klingel und sie scheint sich offensichtlich ertappt zu fühlen.
Sie konnte nicht älter als vierzehn sein.
In einer solchen Situation müsste wahrscheinlich ich als erste etwas sagen, aber ich schweige lange. Mein Blick bleibt nämlich an etwas hängen. Es sind, glaube ich, die Augenbrauen. Ich meine, dieses Gesicht von irgendwoher zu kennen. Die Augen sind oval und schräg, die Farbe der Iris kann ich auf die Entfernung nicht erkennen. Ihre Haare sind braun und glatt, vielleicht etwas rötlich, genau wie diese Augenbrauen. Geradlinige Augenbrauen, die ihr Gesicht vollkommen machen, und die ich – jetzt weiß ich es mit Sicherheit – schon irgendwo gesehen habe. Merkwürdig, ich glaube, das Thema Augenbrauen hatte ich heute schon.
Ich lächele sie an, als ob ich sie kennen würde, und sage „Hi!“
Und: „Was machst du denn da?“
Als Reaktion darauf – oder vielleicht auch einfach so – lacht sie kurz, schaut auf irgendetwas neben ihren Füßen und läuft dann Richtung Teich. Es raschelt, als sie im Schilf verschwindet. Das erste menschliche Wesen in dieser Stadt, das ich treffe!
Ich will sie einholen und trete zwischen die braunen Pflanzen, ich glaube, direkt hinter ihr zu sein. Ein Rohrkolben schlägt mir zwischen die Augen.
„Kannst du mir sagen, welcher Weg aus der Stadt hinausführt? Ich habe mich etwas verirrt…“, rufe ich, während meine Schuhe mit Teichwasser volllaufen.
Sie antwortet nicht. Ich bleibe stehen und weiß auf einmal, dass es ein Bild ist, von dem ich sie kenne. Es ist ein Poster in der Bibliothek, von dem sie auf den Betrachter hinunterblickt. Ihr Gesicht wurde auf einem Buchcover abgedruckt. Na schön, den Titel des Buches weiß ich nun nicht, aber im Moment ist mir das so egal wie der heruntergeworfene Wirtschaftsteil zu Hause auf dem Boden, denn ich muss sie – das ist mir echt wichtig – finden.
Doch sie ist fort, einfach so.
Ich kann sie weder sehen noch hören. Das heißt entweder, dass sie weggelaufen ist oder dass die auf dem Grund des Teiches sitzt. Nur für den Fall schaue ich auf das Wasser.
Dort sitzen die Frösche.
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