Sie wurde an der Hand genommen. Es war nicht ihre Hand, die genommen wurde. Zu wem gehört dieser Körper eigentlich? Ich habe einen Körper. Sie kann es nicht fassen. Niemand hat ihr gesagt, dass sie das gefälligst für selbstverständlich nehmen soll.
Sie ist Aktivistin. Heute lag sie in einem Graben. Ihr Fahrrad stand daneben. Und sie konnte sich keinen Fleck rühren.
Wie auch. Es ist Winter. Sie war vor Winters aus der Welt geflohen, die Welt ein Tor zu tausend Wüsten… Und sie rief ihm zu, und es blieb stumm, und sie fing an zu tanzen, und es blieb kalt, und sie stellte Fragen, und blieb ein Narr.

Es war so viel einfacher dort liegenzubleiben im Graben, sterben würde sie schon nicht, und irgendwann würde etwas passieren, und währenddessen lauschte sie dem sanften Rauschen ihrer Thetawellen.
Aber dann begann sie sich zu erinnern, dass sie Hände besaß. Diese Erinnerung war so weit entfernt, dass es sich anfühlte, als müsse sie dafür einen schweren Stein hervorholen, der im schlammigen Meeresgrund verborgen gewesen war. Und sie begann sich zu erinnern, dass es eine Welt um sie herum gab, dass es ein Leben gab, das sie führte, dass es eine Vergangenheit gab, die sie durch ihr Erleben und Verhalten geschaffen hatte, und ihr wurde ganz flau.
Nichts wollte sie, außer eine Höhle in die sie kriechen konnte, und diese Höhle fand sie in zwei Augen, die Augen der Person, die ihre Hand genommen hatte.

Es passierte in einem Zug. Sie war auf der Reise irgendwohin – es könnte in Deutschland gewesen sein. Nachmittags. Die Luft war grau, Mittag schlief auf Raum und Zeit. Und in diesem Zug gab es Fenster, und sie schaute hinaus, und sie sah Felder. Sie sah Felder und fragte sich warum.
Warum. Warum. Für mich etwa?
Ja. Das gehört auch mir. Auch irgendwie nicht. Aber ich gehe ja einkaufen. Ja. Ich gehe in Märkte, die Supermärkte heißen weil sie drinnen sind und beheizt und alles ist verpackt. Und ich habe Geld dabei und ich nehme Sachen in die Hand und gebe etwas von meinem Geld her und nehme die Sachen mit. Die Sachen. Sie liegen da. Jemand hat sie dorthin getan, die Waren, jemand hat sie gebracht, die Waren. Jemand hat sie sich ausgedacht. Und… ich weiß nicht woher sie kommen. Ich weiß nicht woher die Atome kommen, aus denen ich bestehe. Ich hab einfach Geld dafür bezahlt.
Und sie sah die Felder, und hatte so die Ahnung, dass kein Mensch so richtig wusste, wo alles herkommt und wo alles hingeht, und da dachte sie sich, so ein Scheiß. Bewertung mit Mittelfinger-Modus.
Nein und nein… und ihr fiel ein…
Die Welt, ein Tor…
Na gut. Bleibe ich noch sitzen, in diesem Zug. Was soll’s. Ich fahre bis zur Endstation. Und dann laufe ich. Geradeaus, ohne zu schauen. Und ich gucke rechts und links am Wegrand, dort tun sich dann Pflanzen auf, und die esse ich dann, und ich gucke in den Wald, und da finde ich auch etwas, und ich laufe weiter, nur nicht nachdenken, und dann gelange ich irgendwo hin, und dort sind Menschen, halt, was mach ich dann, verdammt. Bis dahin muss ich mir etwas überlegt haben.
Ha, da kannst du lange warten, bis der Komet einschlägt.
…Es passierte in einem Zug. Sie hatte auf einmal ein Gespür dafür, etwas sei anders. Nicht grundsätzlich, kann etwas überhaupt grundsätzlich anders sein, es muss immer anders sein als etwas anderes, ha, da liegt das Problem, es gab auf der Welt ja nicht nur sie. Sie und die anderen. Die waren anders.
Es ist wie bei der Raumzeit, dachte sie, wir sind Teil von Raum und Zeit, deshalb können wir uns nichts vorstellen, das außerhalb von Raum und Zeit existieren soll, wie den Urknall oder das vor dem Urknall. Genau, es gibt nämlich kein davor, weil es ja keine Zeit gibt, erst mit dem Urknall, und das davor gibt es nicht, und das ist nicht zu fassen.
Und es ist wie, als wenn es eine Farbe gäbe, zusätzlich zu Rot, Blau, Grün, nennen wir sie Hyolluwisix, auch egal, und diese Farbe können manche Menschen wahrnehmen und manche nicht. Ist ja nicht schlimm. Aber Menschen, die kein Hyolluwisix sehen, werden es sich auch niemals vorstellen können.
Und wenn dann wer anfängt, in allerschönsten Hyolluwisixtönen zu malen, das sehen manche dann nicht, und fangen an sich zu fragen, was falsch ist. Da hat man was zu sehen. Gefälligst. Wie alle.
Ja, gib dir doch mehr Mühe! Das gibt’s nicht, dass jemand das nicht sieht. Warum freust du dich nicht an dem, was der Künstler da malt? Warum freust du dich nicht mit uns?
Und wir fangen an, den Maler zu beobachten, wir starren fest auf seinen Pinsel, wir merken uns jede seiner Bewegungen, visualisieren sie in einer Farbe, die wir kennen, merken uns das Muster. Und freuen uns mit den anderen, weil das Bild so schön ist. Aber verdammt, war das anstrengend.
Ha, fiel ihr im Zug ein, sie kannte einen Künstler. Er hatte ihr ihren Namen gegeben. Julai.

Es tönen Geräusche durch das Abteil. Julai kuschelt sich zum Abschied in das weiche, blaue Sitzpolster. Verdammt, diese Kälte draußen. Dieser Winter.
Nächste Station, soundso. Endstation. Wir bitten alle Fahrgäste, auszusteigen und bedanken uns für ihre Fahrt mit…
Der Rucksack. Ein Sack zum Aufrucken, ruck-auf. Julai macht alles sehr langsam. Umdrehen, okay, alles dabei, und vorsichtige Schritte Richtung Tür. Ach was. Der Knopf blinkt, die Tür ächzt sich zur Seite und ein Schwall feuchtkalter Schneeluft begrüßt Julais verschlafenes Gesicht.
Jetzt hätte ein Kontrabass einsetzen können. Warum, ach, nur so. Pff, der Plan, einfach loszulaufen, ist ja bescheuert, aber okay, ich hab den Rucksack, ich kann laufen, ha, mensch, kann ich viel. Wie ist es wohl hier?
So wie an jedem Bahnhof, sagt die Langeweile, es gibt nichts Gleiches, erwidert Julai.
Denn dieser Bahnhof hat Vögel, und einer ist so lustig gepunktet vorne, hallo du, bist du eine Wacholderdrossel? Was soll’s, du kommst mit, stimmt’s? Jaaaah. Genial du bist.
Gar nicht erst auf die Uhr schauen. Oder auf ein Straßenschild. Sie läuft einfach los. Das kann sie. Sie läuft die erstbeste Straße lang. Gut. Besser. Wieder nur gut. Nicht gut. Besser.
An der Seite gibt es Alleebäume und Schnödigkeit. Der Vogel, er kommt mit, aber er guckt gar nicht, ob sie guckt, er spricht nur. Leise, glockenklar, genau das Richtige sagend.
Julai darf träumen. Julai darf sich vorstellen, wie es wäre, erwachsen zu sein. Inmitten dieses fremden Dorfes darf sie alles, alles und nichts, aber immer noch mehr alles.
Wie lange sie läuft, kann sie nur an der Ermüdung ihrer Füße festmachen. Das komische Gefühl im Hals fühlt sich fast an wie Durst. Okay, heißt, ich muss anhalten, hallo ihr Füße, seid ihr einverstanden? Pff, wenn du meinst.
Julai setzt sich auf einen Stein und wirft einen Blick zurück. Die Albedo des Zurück ist gering. Ihr Blick transmittiert. Seufz.
Wie weit war sie gegangen, und sich selbst nahm sie immer mit.
Das Wasser ist ein Wahnsinn, so kalt und klar und süß. Wenn sie sich konzentriert, ist da ein Gefühl von Stunden, die vergangen waren, von Bodenbelägen, die gewechselt hatten, von Gerüchen, die dem Weg Farbe verliehen hatten.
Wenn nicht, ist da immer noch die Stimme des Vogels, der ihr egal ist, dem sie nicht egal ist. Die Wacholderdrossel der unerwachsenen Klarträumenden.

Es wird so wahnsinnig kalt, dass Julai sich etwas überlegen muss. Nun gut, jetzt hatte sie sich hier reingeritten, nun gut, jetzt war sie hier. Um sie her: Stille.
Der Schnee beleuchet den Weg, es dämmert, sie geht an einem Feld entlang und hofft auf ein Haus.
Und da tut sich die Kulisse eines Hauses auf, tatsächlich, Erleichterung.
Julai klettert hinein, ihr ist alles egal, sie findet irgendwas Weiches im Keller und deckt sich damit zu.

Julai ist Aktivistin, und sie wird es immer bleiben. Sie weiß genau, was sie will: an der Gesellschaft teilhaben. So anstrengend und herausfordernd das ist. Sie will ihre Ideen teilen, sich selbst teilen, sie ist darauf gekommen, was für sie der Sinn des Lebens ist: Den Raum mit der eigenen Schönheit füllen. To spread the own beauty. Spread, gutes Wort, Schönheit emittieren.
Julai ist wirklich schön. Äußerlich, innerlich. Jeder Mensch ist schön.
Das Ziel ihres Aktivismus kann sie schwer in Worte fassen. Zumindest kann sie sich nicht kurz fassen. Vieles bewegt sie. Alles hängt mit allem zusammen. Oft ergeben sich Zusammenschlüsse, Metaebenen, die vieles erklären. Julai verbindet, sie forscht. Es soll nicht alles in ihr drin bleiben.
Jetzt könnte sie ewig erzählen, wenn sie nicht gerade schlafen würde, von der Schönheit der Welt und den Möglichkeiten, die wir Menschen hätten, würden wir sie nur erkennen, und von der atemberaubenden Diversität um uns herum. Warum erkennen wir sie nicht… die Diversität.
Sie, Julai, ist Teil von etwas Großem, einer Bewegung. Gut fühlt sich das an.

Im Schlaf reiten Waggons auf ihren Deltawellen. Ein Zug, der mit Glimmerschiefer gen Westen fährt. Die Sonne geht dahinter auf, wo der Zug den getunnelten Berg verlassen hat, eindrucksvoll.
Filigran erhebt sich dahinter ein Haus. Ach was, ein Haus – ein Gebäude, ein Organismus.
Es wirkt wie aus Glas, als wäre es aus eigenartig spiegelndem, hellblauem Quarz gebaut, leicht, gewachsen, wie eine Pflanze, aber die Neigung des Menschen spiegelnd, alles rechteckig zu machen. Ein Eingang ist nicht auszumachen, der wäre ja unten, aber es gibt kein unten, es ist alles so zugewachsen. Holladriho.
Wenn sie darauf landet, Julai, dann auf einer Terasse aus hellblauscheinendem Quarz. Sie klettert ins Innere, hält sich an Säulen fest, die das Gerüst bilden. Immer tiefer kann sie klettern, und es ist wie ein Baum.
Es ist wie ein Baum, nur dass keine Äste dort wachsen, sondern Säulen dort stehen. Ineinandergreifend, verzweigt, rechteckig und transparent. Stabil, filigran, leicht, solide. An Säulen, die wie Äste sind, läuft sie barfuß entlang, das geht wie von selbst.
Während Julai im Zentrum des Gebäudes steht, flutet das Sonnenlicht in die Halle und bricht sich in Bündeln zwischen den Säulen. Ah, jetzt weiß sie, woran es sie erinnert: Eis. Wie ein Haus aus Eis, aber warm. Gut beobachtet.
Oh, da könnte sie ewig stehenbleiben, im Zentrum. Wie eine Libelle auf einem besonders schönen Blatt. Sich anscheinen lassen. Gaaaahhh, Licht, jah, Scheiß Winter.
Nun Gut.
Geht Julai weiter, was ob ihrer Neugier unerlässlich ist, klettert sie bald nach unten, hinein ins Geschehen. In einem von transparenten Säulen zugewucherten Raum füllt gelbwarmes Licht die Wände und ein Tisch steht dort und Stühle, und Menschen sitzen dort. Alles Aktivisten, ja.
Schau genau hin… schau genau hin, Julai. Was machen die da? Du weißt es genau. Sie malen nicht in Hyolluwisixtönen. Das verstehst du. Das verstehst du!

Ich… ich verstehe es. Ja. Ich… ich hab mir diese Welt ja auch ausgedacht.
Ich träume!
Nein, ich bin wach. Ich verstehe alles. Weil, das hab ich mir ausgedacht. Es gehört auch mir.
Schaust du nach? Klar.
Julai, irgendwie kann sie klettern wie ein Eichhörnchen, stolpert in den Raum, aber die Leute da stören sich gar nicht an ihr. Sie haben Zettel dabei, breiten sie auf dem Tisch aus. Oooh, das ist etwas, was Julai versteht. Diese Theorien hat sie selbst aufgestellt. Dieses Haus hat sie selbst geplant. Diese Grafiken hat sie selbst entworfen. Erklärungsansätze für die Welt da draußen.
Die drei am Tisch sehen sie fragend an, Julai gesellt sich dazu.