Eines Tages sah ich vor der Heuschrecke ein Haus. Es war ein Schock, denn ich hatte mich daran gewöhnt, dass, wenn ich diesen Weg entlanglief, die Heuschrecke auf der großen blauen Blume am Feld saß und mich ansah.
Es war eine außergewöhnliche Heuschrecke; sie war zwar groß und grün wie die Anderen und hatte genauso grüne, lange Fühler. Aber irgendetwas an ihr schien sie zu einer besonders schönen Heuschrecke zu machen. Vielleicht waren es ihre Beine.
Das andere, was sie von ihren Artgenossen unterschied, war, dass sie sich etwas untypisch verhielt: Nie auf Futter-oder Partnersuche saß sie wie ein Kunststoffdekor auf der blauen Blüte, unbeweglich und immer auf dem selben Fleck, nur ihre Fühler und Kieferzangen bewegten sich. Sooft ich schon an ihr vorbeigelaufen bin, sie verließ nie ihren Platz. Nach dem fünften Mal habe ich mich gefragt, wovon sie lebt, wenn sie nie auf Futtersuche ist. Mit ihrem Heuschreckenkiefer schien sie ständig träumerisch auf etwas herumzukauen. „Vielleicht frisst sie von der Blume, auf der sie lebt?“, habe ich mich gefragt. Um das zu überprüfen, habe ich mir sogar Zeit genommen, um die anderen blauen Blumen auf Fraßspuren zu untersuchen. Die anderen blauen Blumen am Feldrand waren schon ganz abgenagt von den vielen Heuschrecken, die sich darauf niedergelassen hatten. Die meisten Blütenblätter fehlten und waren vertrocknet, und die Stängel ragten wie tote Bäume aus dem Roggen. Die Blume der besonderen Heuschrecke dagegen sah unberührt aus. Als würde sie von ihr beschützt werden.
Das imponierte mir irgendwie und seitdem ich diese Hypothese aufgestellt hatte, blieb ich jedes Mal vor der blauen Blume stehen, bevor ich weiterging. Ich erwartete natürlich jedes Mal, dass die Heuschrecke dort sitzen würde, so wie sie es jeden Tag tat. Ich wusste, das sie es auch am nächsten Tag tun würde. Es gab mir Sicherheit, das zu wissen, und ich dachte nicht mehr über die Heuschrecke nach und stellte mir auch nicht vor, was wäre, wenn sie fortspringen oder einfach nicht mehr da sein würde. Ich lief einfach vorbei oder blieb stehen und sah ihr in ihre Facettenaugen. Es kam mir vor, als wären wir Freunde. Freunde, die sich ganz ohne Kommunikation kennengelernt hatten, sondern einfach nur, indem der eine am anderen vorbeilief, und das Tag für Tag.
Irgendwann konnte ich auf den Anblick der Heuschrecke nicht mehr verzichten, ich freute mich sogar darauf, ich mochte sie, und gerade dann kam das Haus. Ich hatte einen mehrtägigen Ausflug hinter mir und freute mich auf das zu Hause – das Dorf, die Felder, die Heuschrecken – und radelte gerade die Straße entlang, als ich das Dach zwischen den Bäumen hervorragen sah.
Je näher ich kam, umso mehr sah ich von dem Haus. Es war ohne Zweifel bereits fertig gebaut und sogar bewohnt. Ich hätte erwartet, dass sich Bauzäune um das Grundstück ranken, dass das Dach fehlt oder der Garten einer Wüste aus Bauschutt gleicht. Doch das Haus stand da, als wäre es schon immer dort gewesen. Wie konnten die Bauarbeiter in so kurzer Zeit ein Haus errichten? Ich stellte mir vor, wie reihenweise Lastwagen vor das Grundstück fahren, beladen mit fertigen Wänden, Stehlampen, Blumen für den Garten und einer glücklichen Familie, und wie schwitzende Bauarbeiter das Alles aufbauen wie ein großes Puzzle und die glückliche Familie ins Haus stellen und dann wieder davonfahren. Ich wusste, es musste anders gewesen sein, aber das Bild ging nicht mehr aus meinem Kopf.
Dann dachte ich, während ich mit dem Fahrrad immer näher an das Haus kam, dass ich vielleicht klingeln sollte. Schließlich wohnte ich nur ein paar Häuser entfernt und es war mein Recht zu erfahren, wer da wohnte und warum. Ich stellte das Fahrrad an einer Straßenlaterne ab und ging einen unscheinbaren Weg zwischen zwei großen Backsteinhäusern entlang Richtung Feld. Der Roggen schien bereits auf mich zu warten, und es fiel mir erst auf, als ich die ersten blauen Blumen sah: Das Haus, dieses unheimliche, neue Haus, versperrte mir den Blick zur Heuschrecke. Es hatte sich zwischen die anderen braven Häuser gedrängt, an die Stelle, wo ich früher stand und mir mein Lieblingsinsekt ansah. Heute würde ich dort im Wohnzimmer zwischen Stehlampe, Einbauküche und glücklicher Familie stehen.
Es war nicht einmal ein schönes Haus – obwohl mir die einzelnen Teile gefielen. Allerdings passte das Alles nicht wirklich zusammen: Die betonartige Wand, der wuchtige Balkon, das merkwürdig schiefe Dach – es sah aus, als ob das Haus von diesem Dorf nie gewollt wäre. Nie bestellt, und trotzdem abgeholt. Fehl am Platz. Und außerdem machte es mich furchtbar wütend. War es nicht mein Recht gewesen, den Feldweg entlangzuradeln und immer am selben Ort stehenzubleiben? Gab es nicht noch andere Menschen, die dieses Roggenfeld mit seinen blauen Blumen betrachten wollten? Wurden nicht etliche unschuldige Heuschrecken vertrieben – oder sogar getötet – nur um diesem hässlichen Haus Platz zu machen?
So stand ich da, trotzig, und wusste nicht weiter. Ich dachte an meine Heuschrecke. Das Gefühl von Sicherheit wich dem mulmigen Gefühl, das bei jeder Veränderung eintritt, bis man sich an sie gewöhnt hat. Werde ich mich überhaupt daran gewöhnen, keine blaue Blume, keine mit den Fühlern zuckende Heuschrecke darauf zu sehen?
Und wieso regte mich das überhaupt so auf?
Ich lief zur Haustür und klingelte – intuitiv hatte ich den Klingelknopf gefunden.
Das dumpfe Geräusch, das ich damit verursachte, klang wie eine verklemmte Fahrradklingel. Bevor ich mir einen Grund für mein Handeln überlegen konnte, wurde die Tür geradezu schwungvoll aufgerissen. Der Mensch, der dies getan hatte, stand in der Tür, ohne ein Wort zu sagen. Ich warf einen Blick in die Wohnung. Tatsächlich, hier sah alles aus, wie von schwitzenden Bauarbeitern aufgestellt: Wahllos in den Raum hinein. Das, woran mein Blick als erstes hängenblieb, war die Fahne eines Fußballclubs, die von der Decke hing – sie wiederum führte meinen Blick zu einer schlanken Vase auf dem Tisch, in der eine einzelne blaue Blume stand. Sie war an der gleichen Stelle, wo ich sie sonst immer im Feld gefunden hatte – das bemerkte ich sofort. Und, scheinbar untrennbar, beschützend an ihrer Seite – die Heuschrecke. Das war es, worauf ich gehofft hatte. An dem leer dreinblickenden Mann vorbei begab ich mich in die hässliche Wohnung, nahm mir wie selbstverständlich die blaue Blume mit der Heuschrecke darauf und verließ die Wohnung wieder, ohne ein Wort zu sagen. Es kam mir vor, wie das normalste auf der Welt. Dann lief ich einfach den Feldweg wieder zurück. Das grüne Tierchen zuckte wieder mit seinen Kieferzangen. Als ich zum Haus zurückblickte, stand der Mann immer noch da und beobachtete mich mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck. Mir war gleich beim ersten Blick auf das Haus klar geworden, dass es etwas Ungewolltes ist. Etwas, das nicht in diese Welt passt und eigentlich gar nicht hierher kommen sollte. Meine Freundin zu befreien, war also das normalste, was ich tun konnte – nein, ich bin nicht verrückt.
Schreibe einen Kommentar