Nachhaltigkeit, Neurodiversität, Nonsens

Meditieren mit ADS

Der Gedanke, diesen Beitrag zu schreiben, kam mir während des Meditierens. Ob man das dann noch Meditation nennen kann? Ich würde sagen, ja. Irgendwelche Gedanken dabei zu haben, ist völlig normal. Jedenfalls hatte ich mich hingesetzt, einen Timer eingestellt und ich starrte vor mich hin mit der starken Intention, zu meditieren. Beinah jeden Morgen mache ich das.
Meditation, das ist die Lenkung der Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt. Immer wieder. Das Ding ist nur, Lenkung der Aufmerksamkeit, uuh, das ist gerade das, woran es hapert beim Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom.

Es ist nicht so, dass ich nicht aufmerksam sein kann. Es ist nur manchmal unendlich schwer, meiner Aufmerksamkeit zu sagen: So, jetzt geh mal da hin. Ja genau, da hin. Und bleib da! Nein, meine Aufmerksamkeit macht so etwas nicht…

Jedenfalls, ich habe einmal in einem Buch über ADS gelesen, dass Entspannungsübungen und Meditation Menschen mit ADS „naturgemäß“ verschlossen wären. Das klingt so endgültig! Also, ich will das nicht hinnehmen. Diese Aussage lädt mich geradezu dazu ein, das Gegenteil zu beweisen: Ach ja?? Ich will eben doch meditieren. Weil Meditaion eine viel zu gute Sache ist, als dass ADSler sie nicht auch praktizieren sollten. Und übrigens, ich glaube, dass jeder Mensch im Grunde achtsam sein kann. Es ist eine Fähigkeit, die wir alle haben, an die wir uns nur erinnern müssen, falls wir irgendwann unter Unachtsamkeit leiden. Das ist nichts Exklusives, das nur Erleuchteten zusteht. Anders betrachtet ist Achtsamkeit auch ein Zustand, den wir alle hin und wieder erleben – der Flow der Gegenwart, das Genießen einer Sinneserfahrung, solche Dinge. Natürlich erleben auch ADSler so etwas – manchmal sogar besonders intensiv, dann spricht man von Hyperfokus.

Meditation hilft mir einfach unendlich viel. Denn soviel die Gedanken auch wandern, es gibt doch mehr oder weniger lange Momente, in denen ich im Hier und Jetzt verweile. Ich lasse alles los. Ich will nirgendwohin. Lasse alles zu. Ohne zu bewerten. Dass meine Gedanken nur Gedanken und Gefühle nur Gefühle sind, dass alles vorbeigeht, wenn ich es einfach ziehen lasse, beruhigt mich unendlich. Jeder Moment gehört mir.
Wenn ich unkonzentriert bin, beobachte ich die Unkonzentriertheit. Sie ist sowieso schon da und Teil der Gegenwart, warum nicht akzeptieren? Ich beobachte zum Beispiel, dass ich ganz viele Gedanken im Kopf habe. Und dann beobachte ich, was passiert, wenn ich mich auf meinen Atem konzentrieren will. Manchmal bemerke ich einen großen Widerstand. Ich habe überhaupt keine Lust, meine Aufmerksamkeit auf das Ein- und Ausströmen der Luft an meiner Nasenspitze zu richten. Das ist mir viel zu anstrengend, sagt mein Kopf. Ich beobachte diesen Widerstand. Er erinnert mich an den Widerstand, den ich früher manchmal hatte, wenn ich Matheaufgaben lösen sollte. Uhh, das war schlimm. Das verrückte war, ich war ziemlich gut in Mathe, ich hatte alles verstanden. Aber sich in eine Aufgabe hineinzudenken und tatsächlich zu rechnen, war mir einfach viel zu anstrengend. Ich wollte nicht.
Auch heute noch, wenn ich gerade Watte im Kopf habe, kann es passieren, dass es mir unmöglich erscheint, zwei dreistellige Zahlen zu subtrahieren. Ich weiß, wie es geht, aber diese kognitive Anstrengung, das ist zu viel.

Für das Meditieren habe ich einige Tricks entwickelt, die mir helfen, meine Aufmerksamkeit zu lenken: Ich gebe mir selbst bestimmte Instruktionen. Die Achtsamkeit und diese Instruktionen sind Instrumente im Umgang mit meinem Kopf, einem störrischen Ding. Es tut mir gut, zu wissen, dass ich diese Mittel habe, die antrainierte Selbstregulation. Also, ja, es geht!
Einige der nachfolgenden Tipps zum Umgang mit Unkonzentriertheit sind vielleicht auch für nicht-ADSler interessant (die sogenannten Neurotypischen Menschen, wobei mich dieser Ausdruck stets etwas amüsiert).

1) Lasse dich faszinieren von dem, was du beobachtest.
Vor allem Menschen mit ADS können sich oft nur dann auf etwas fokussieren, wenn dieses Etwas in hohem Maß spannend ist. Der Atem, die gleichförmige Beobachtung desselben, ist naturgemäß nicht gerade spannend. Es kann unendlich langweilig sein, den Atem zu beobachten, und je langweiliger, desto höher der Widerstand, überhaupt Aufmerksamkeit aufzubringen. Na ja, wir atmen ja schon unser ganzes Leben lang. Aber: Das was wir da machen, ist eine hochgradig abgefahrene Sache. Vergegenwärtigen wir uns, was da passiert: Unser Zwerchfell spannt sich an, durch den Unterdruck saugen wir Luft ein, und diese verteilt sich in den feinen Lungenbläschen. Der Sauerstoff aus der Luft geht ins Blut über, ins Hämoglobin, und unser Herz transportiert dieses sauerstoffreiche Blut über die feinsten Kapillaren in alle Zellen, die Sauerstoff brauchen. Die Mitochondrien veratmen den Sauerstoff, machen Energie dabei, und damit entsteht CO2. Das kommt dann zurück ins Blut, und das Herz bringt das CO2 wieder zu unseren Lungen, und dann atmen wir es aus… ich hoffe das war medizinisch einigermaßen richtig, jedenfalls finde ich das einfach unglaublich. Und das machen wir einfach nonstop… Mit jedem Atemzug verlängern wir unser Leben, sozusagen, fügen einen Moment hinzu, und immer wieder aufs Neue. Meditation heißt nun nicht, über die physiologischen Vorgänge in uns nachzudenken. Aber ein positives Sich-Wundern kann zu der interessierten, neugierigen und forschenden Einstellung beitragen, die die Achtsamkeit unterstützt.

2) Du kannst das!
Ich weiß ja nicht, wie das so für andere ADSler ist, aber ich neige dazu, manchmal ein bisschen zu viel daran zu denken, dass ich nun soundso unaufmerksam bin. Wenn ich mal wieder etwas verloren habe, oder etwas vergessen habe, oder mal wieder bemerke, dass ich während eines Gesprächs über eine große Packung Vaseline nachdenke, haha, hmmmpf.
Na, was soll’s. Was ich weiß, ist: Manchmal klappt das auch mit der Aufmerksamkeit. Ich habe auch schon richtig gut meditiert und war dabei total bei der Sache. Also ist es per se möglich. Es hilft, sich das vor Augen zu führen. Und: Jeder neue Tag, jeder neue Atemzug ist eine neue Chance, aufmerksam zu sein. Egal, wie „erfolglos“ eine Achtsamkeitsübung mal verlaufen ist, kein Moment gleicht dem anderen, und die Aufmerksamkeit kommt auch wieder. Übrigens, darüber nachzudenken, wie unkonzentriert mensch gerade ist, oder dass die Meditation nicht klappt, oder wie unangenehm ich das gerade finde, das sind naheliegenderweise auch einfach Gedanken. Habe ich auch erst nicht gecheckt. Ich halte es für möglich, dass die Gedanken darüber, wie unaufmerksam man gerade ist, einen mehr ablenken, als das Aufmerksamkeitsdefizit an sich… Tja, das ist schwer zu sagen. Jedenfalls kann es nicht schaden, sie einfach zu ignorieren („na und, ich meditiere jetzt trotzdem!“) und zurückzukehren zu dem, was man gerade beobachtet.

3) Was noch hilft…
… ist, den Atemzug in seiner vollen Länge zu beobachten. Einfach dranbleiben: Wenn ich den Luftstrom an der Nasenspitze bemerke – aber auch, während ich die Pause bemerke, die Pause zwischen den Atemzügen. Also auch das nicht-empfinden beobachten.
Sitzmeditation ist auch nicht das nonplusultra (cooles Wort). Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, achtsam zu sein. Insbesondere, wenn mensch sehr unruhig ist, ist eine Geh-Meditation oder achtsames Yoga vielleicht angenehmer. Achtsam sein können wir im Prinzip immer. Sogar in Eile können wir achtsam sein. Oder beim Zähne putzen oder Geschirr spülen.

Unruhe ist in meiner Erfahrung nichts, womit ich mich abfinden muss (ich bin allerdings auch nicht hyperaktiv). Wenn ich abwarte, oder spannende Sachen mache, oder rumhüpfe oder lustiges Stimming betreibe, dann geht sie vorbei. Ich fände es schade, wegen innerer Unruhe darauf zu schließen, dass ich gerade nicht meditieren kann.
Es hilft, die Meditation zu einer festen Routine zu machen. Gar nicht so leicht, wenn der Alltag ein Balanceakt ist zwischen alles-versinkt-im-Chaos und so-tun-als-wäre-alles-normal (hihi). Routinen oder Rituale können oft sehr effektiv das Chaos lindern. Das ist eine Sache zum Ausprobieren… jedenfalls kann ich eine morgendliche Meditation sehr empfehlen, das ist eine klasse Einstimmung für den Tag!

Die Achtsamkeitsübungen, die ich anwende, kommen aus dem MBSR nach Jon Kabat-Zinn. Ich orientiere mich an dem Buch „Full Catastrophe Living“.

3 Kommentare

  1. soefleur

    Liebe/r Autor/in,
    ich würde mich gerne mit Ihnen zu dem Thema ADS und Meditation unterhalten. Ich habe die Diagnose seit ich 7 Jahre alt bin und habe vor einem Jahr erst die Meditation/ das Achtsamkeitstraining in mein tägliches Leben Integriert. Ich würde gerne mehr Menschen mit ADS die Erfahrung mit Meditation haben zusammenbringen, um dann herauszufinden, ob es vielleicht eine Ergänzung für jeden ADSler sein könnte und wie man es anderen näher bringen kann.
    Sie erreichen mich auch bei Skype: soesoe54

  2. Caro

    Hallo
    Google sei Dank – habe „Meditieren mit ADS“ eingegeben 😉

    Danke für die Tipps! Und v.a. das klare, frische Benennen der Tatsachen. Ich freue mich aufs Ausprobieren!
    Irgendwie denke ich, wir ADSler sind ein bisschen was Besonderes – wir dürfen uns etwas Erarbeiten und dann eine Dankbarkeit für etwas entwickeln, was für viele Menschen selbstverständlich ist. Und wir haben eine ganz andere Sicht auf das Leben … 😉

    • undjetzterst

      Hallo, ich freue mich, dass dich der Text inspiriert hat! 🙂
      Das ist ein schöner Gedanke und auch ein wenig die Essenz des Begriffs Neurodiversität – AD(H)S hat auch positive Seiten und auch manche Psychiater sagen das explizit 😉 Den Eindruck, dass das Leben mit AD(H)S einem eine andere Sicht auf die Dinge mitgibt, habe ich auch oft (unter anderem deshalb sind mir andere AD(H)Sler meist besonders sympathisch…).

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