Ich liebe diese Zahl. Die zwei ist gelb, eher hell, die eins ist weiß. Ich mag helle Farben und kleinere Zahlen sind sympathischer. Früher dachte ich, es ist gar nicht so besonders, dass Zahlen für mich Farben haben. Witzigerweise reagieren die meisten Leute aber ziemlich verblüfft, wenn ich es ihnen erzähle. Seitdem ich das herausgefunden habe, erzähle ich es gerade deshalb gerne, um dieses Staunen zu ernten.
Synästhesie ist ziemlich cool. Bei mir hat alles Farben. Zahlen und Buchstaben, eindeutig auch Musik, und sogar Bewegungen, das hab ich im Tanzkurs beobachtet. Gerüche auch ein bisschen, aber nicht so eindeutig.

Ich kenne noch andere Menschen mit Synästhesie. Meist wird es auch vererbt. Fünf von hundert Menschen haben wohl diese Art von Wahrnehmung. Manchmal werde ich gefragt, ob ich das nicht irgendwo gelernt hätte. Vielleicht hatte ich als Kind ein Mathebuch mit bunten Zahlen oder so. Aber das glaube ich nicht. Klar, irgendwo kommen die Farben wohl her, aber ich weiß nicht, woher. Ich denke sie mir nicht aus. Sie sind einfach da, wie zusätzliche Eigenschaften, Attribute der Zahlen und Buchstaben. Wie eine begleitende Persönlichkeit. Die Farben sind übrigens nur da, wenn ich mir die Zahlen und Wörter im Kopf vorstelle. Wenn ich ein Buch aufschlage, ist es kein bunter Wirrwar oder so, es ist immer noch schwarz und weiß, ich halluziniere ja nicht. Hirnforscher vermuten, dass bei Synästhesie einfach ein paar zusätzliche Nervenbahnen verlaufen, von dem Bereich, mit dem wir Farben verarbeiten, zu anderen Bereichen, solche für Sprache oder akustische Wahrnehmung oder wohin auch immer.
Menschen mit Synästhesie verbinden die verschiedensten Sinneseindrücke miteinander. Manche stellen sich sogar die Zahlen im Raum verteilt vor, oder können Töne schmecken oder so. Wenn zwei Synästhesisten miteinander reden, klingt das für Außenstehende sicher ziemlich bizarr:

„Die Fünf, die hat ein voll schönes beige…“ – „Nee, spinnst du, die Fünf ist blau!“

„Dein Name gefällt mir. Ein Hauch von Rosa… wegen dem L vorne… obwohl das n mit dem orange und das o mit dem dunkelbraun sich mit reinmischt… nennen wir es lieber terrakotta.“

„Die acht, ich finde, die ist so ne alte Tante, und die neun ist unsympathisch, aber weißt du was, 427 ist so eine schöne Zahl, richtig geil. Und 201. Woaaah.“

„Die zwei… weiblich, glaube ich. Die eins eindeutig männlich. Warum? Keine Ahnung.“

Okay, und wozu ist das jetzt gut? Ganz einfach, ich kann mit Zahlen und Wörter so ziemlich gut merken. Auch in Sachen Rechtschreibung: Fehlt in einem Wort ein h, ist die Farbkomposition eine andere. Und es hilft beim Musik machen, denn Akkorde und Intervalle haben auch Farben. Super, um ein neues Lied zu lernen.

Nun gut. Einundzwanzig.

Ich bin froh, mich mit einundzwanzig endlich einigermaßen an meine Persönlichkeit gewöhnt zu haben (miau).

Einen Tag vor meinem Geburtstag war der ungarische Nationalfeiertag. Das war irre! Ich war an diesem Tag in Budapest. Den Nationalfeiertag mögen anscheinend alle. Ein gewisser Nationalstolz ist auch bei eher alternativ eingestellten Leuten nichts Verwerfliches. Die Menschen stecken sich rot-weiß-grüne Kokarden an die Jacke und kommen auf den Straßen zusammen, wahlweise um Orbáns Rede zu hören („Die Heimat über alles“ und vermutlich noch mehr Unsinn) oder um auf eine von mehreren Demos zu gehen und sich über die Regierung lustig zu machen. Letzteres auf sehr kreative Art und Weise, vor allem die ungarische Satirepartei (wie „Die Partei“ in Deutschland) hat ziemlich gute Wortwitze drauf. Ja, bei der ungarischen Politik kann einem auch ziemlich zum Heulen zumute sein. Allein diese Medienkontrolle á la 1984… so kommt es mir zumindest vor, wenn ich das höre: Es gibt einen einzigen Oppositions-Radiosender in Budapest, und der Rest der Medien sendet nur, was die Regierung bestimmt… Wie sollen all die Nicht-Budapester in Ungarn an unabhängige Informationen kommen? Und dann diese verrückten Bauprojekte, in die endlos viel Geld gesteckt wird, wo es doch überall anders dringend gebraucht wird. Nun ja, ich habe so einiges gehört, das sollte mensch lieber nachlesen, weil ich so genau nicht bescheidweiß, aber ich weiß noch, wie ich mich gefühlt habe, als mir all das im Detail erzählt wurde: wütend und hilflos. Deshalb hat es sich gut angefühlt, wenigstens zu einer Demo zu gehen, obwohl die Menschenmassen ziemlich anstrengend waren. Wenigstens gibt es das, wenigstens bewegt sich etwas. Es ist so dermaßen schwierig, natürlich nicht nur in Ungarn, die eigene Meinung auszudrücken – mir fallen kaum andere Möglichkeiten ein, als Demonstrationen oder vielleicht Petitionen.

Seltsam, oder? Was geht in den Menschen vor? Welche Bedürfnisse sehen sie in dieser Art Politik erfüllt? Wie kommt das zustande? Ich beobachte die Menschen in der Metro, die ihre Trachten angezogen haben, die riesige Ungarn-Flaggen eingerollt dabeihaben, und frage mich, was sie über ihr Land denken.

Jemand fragte mich neulich, ob und mit welchem Land ich mich identifiziere. Mir ist aufgefallen, dass ich mich mit gar keinem Land wirklich stark identifizieren kann. Ich bin Europäerin, ich bin Erdenbewohnerin. Ich bin ich. Zugehörigkeit ist ein sehr grundlegendes Bedürfnis, und natürlich suche auch ich die Identifikation mit einer Gruppe – sogar mit mehreren, die Sache ist komplex. Die meiste Zugehörigkeit finde ich nicht in einer Nationalität, sondern in einer Bewegung, der Umweltbewegung. Dort fühle ich mich zu Hause, selbst als Exzentrikerin, die es sonst schwer hat, irgendwo reinzupassen. Was macht es wohl aus, dass einige Menschen sich extrem mit irgendeiner Gruppe bzw. mit etwas, das größer ist als sie selbst, identifizieren müssen? Und für dieses Etwas vollkommen ihre Individualität aufgeben?

Bald sind in Ungarn Wahlen. Ich hoffe sehr auf Vernunft.