Wenn die Worte doch so fließen würden wie meine Gedanken im Bett um halb sechs. Ich würde es lieben. Nur noch schreiben. Aber vor dem (digitalen) Blatt Papier zerfließen sie wie Sand in hohlen Händen. Keine Ahnung. Kreativität, ausgeblieben durch zu hohe Erwartungen? Gedanken sind frei, weil ich sie nicht teilen muss, gar nicht teilen will. Geschriebenes ist eher da, um es zu teilen, ist es deshalb unfreier? Ach ja, und Gedanken verschwenden keine Zeit auf Orthographie.
Blind. Vorlesung. Psychologie. Genau. Ungarische Vorlesungen, Psychologievorlesungen, sind ziemlich anders als die in Deutschland. In dem nicht unbedingt als Hörsaal zu bezeichnenden Raum saß vorne eine Studentin, deren langes Haar ihr ins Gesicht hing. Sie hörte zu. Der Dozent faselte irgendwas von depressiven Patienten und ich hatte das Gefühl, er machte sich über sie lustig, was ich nicht verstand, wenn er doch selber mit solchen zu tun gehabt hatte. Über Depression machte man sich nicht lustig, fand ich. Aber ich glaube, die anderen fanden seine Vorlesung gut. Egal, das kenne ich schon. Ich meine, als eine von wenigen eine Vorlesung nicht gut zu finden. Wobei ich echt wenig über Dozenten meckere, eigentlich fast garnicht, ich mein, fast kostenlose Wissensvermittlung, das finde ich eher genial. Ah, moment, ich glaub der Dozent kam doch wannanders, erst gabs noch eine Vorlesung über Gesundheitspsychologie. Das war vielleicht cool, es ging um Stress und Stressreaktion und -response und alles mögliche.
Jedenfalls fragte mich die Dozentin, ob ich der Studentin dort vorne helfen könne. Ich verstand erst nicht. Ob ich sie zum Waschbecken bringen könne, fragte sie. Weil sie nichts sehe.
Oh, klar. Warum sie wohl gerade mich fragte? Die Studentin sagte, sie würde mich am Arm anfassen, griff meinen Ellenbogen und ich führte sie durch die Stuhlreihen. Seit wann siehst du nichts mehr, fragte ich. Ich wurde so geboren, sagte sie. Sie benutzte keinen Stock, sondern fragte andere nach Hilfe, anscheinend. Später hörte ich, wie sie sich SMS vorlesen ließ. Schon erstaunlich. Witzigerweise war die nächste Vorlesung Neurologie. Eine irgendwie merkwürdige Neurologievorlesung, merkwürdig in jedem Sinne. Der Dozent setzte sich aufs Pult und sprach über die vergangenen Stunden. Dann hörten wir etwas über eine Krankheit, bei der mensch keine Schmerzen mehr empfinden kann. Aber so richtig kriege ich den Ablauf der Vorlesung nicht mehr zusammen. Müsste wohl auf meine Aufzeichnungen gucken, aber so um sechs Uhr morgens, keine Ahnung, was mache ich hier überhaupt. Liegt vielleicht auch daran, dass das so ein Kuddelmuddel an Themen war. Wir redeten zum Beispiel über Sprichwörter, und ich war ganz stolz, als einzige die Antwort auf eine Frage parat zu haben, nämlich Konkretismus. Angeblich bringt der Präfrontallappen die Fähigkeit, Sprichwörter metaphorisch zu verstehen, finde ich seltsam, ich hätte das jetzt nicht in einer Gehirnregion verortet, aber wer weiß. Ich meine nur, weil für Autismus ist ja Konkretismus, also das wörtlich Verstehen von Sprichwörtern und Metaphern, charakteristisch, und das ist ja keine Läsion des Präfrontallappens oder so. Egal, ich bin keine Hirnforscherin. Keine Ahnung, wie wir übrigens darauf gekommen sind, im Folgenden ging es dann nämlich weiter mit Wahrnehmung. Es war für den Dozenten sehr praktisch, eine blinde Studentin vor sich sitzen zu haben, denn so konnte er einiges vorführen, was mit der Wahrnehmung passierte, wenn mensch nichts sah. Er wollte zum Beispiel zeigen, dass wir Dinge „sehen“ können, Formen erkennen können, auch ohne visuellen Reiz. Dazu wollte er der Studentin Zahlen auf die Hände malen, mit den Fingern, die sie erraten sollte. Er fing damit an, zeichnete eine Zwei auf ihre Hand, da stutzte sie kurz und sagte dann: Ich habe in meinem Leben noch nie Zahlen gesehen. Ach, bin ich blöd, natürlich, sagte der Dozent. Er dachte nach, fing wieder an zu zeichnen und fragte sie: Spürst du, dass diese Linie gerade ist? Spürst du, dass diese Linie kurvig ist? – Sie bejahte. Dann zeichnete er einen Kreis auf ihre Hand und sie konnte erkennen, das ist kurvig. Na also.
Der Dozent schien ehrlich neugierig zu sein. Wie wahrscheinlich viele andere in diesem Raum. Er fragte sie, wie sie sich denn Zahlen vorstelle, beim Rechnen zum Beispiel. Das faszinierte mich auch völlig, es lag so dermaßen außerhalb meines Erfahrungraums, mir Dinge nicht visuell vorzustellen! Da meinte sie, darüber habe sie sich noch nie Gedanken gemacht. Nun ja. Das erinnerte mich an die banale Feststellung, dass sie nicht in erster Linie blind, sondern einfach ein Mensch war, sogar ein Mensch mit einer besonderen Wahrnehmung für Musik, denn als der Dozent ihr eine Stimmgabel vor das Ohr hielt, konnte sie anscheinend den Ton C erkennen. Die Stimmgabel ging durch die Stuhlreihen zum Ausprobieren. Sehr praktische Vorlesung. Wir sollten auch aufstehen, alle miteinander, und einen Fuß vor den anderen setzen und die Augen schließen, und, wackelt es mehr als mit offenen Augen? Klar, Propriozeption und so. Die Wahrnehmung, wo unser Körper steht, im Raum, die Statik und alles. Geht mit Augen besser, aber auch ohne.
Uhhh, heute ist Statistik dran. Ob ich da überhaupt irgendwas kapiere? Aber hey, eigentlich finde ich Statistik total spannend. Ich meine, die halbe Weltsicht basiert auf Statistik, sie ist überall. Da wüsste ich doch auch gerne, was sie ist, wie sie funktioniert.
Jaja, ich geh dann mal in die Uni. Nichtparametrische Verfahren und so.
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