Das hier schrieb ich Mitte April, eine Woche nach den Wahlen in Ungarn:
Hm. Einen Text schreiben und Früchtetee trinken scheint mir sinnvoller, als herumzuliegen voll Angst vor der ungarischen Regierung.
Falls diese das liest: Kérem, haggyanak békén. Nem fogok forradalmat szervezni, hogy tudnék, ha még sárgaborsófözeléket is képtelen vagyok készíteni.
Ich bin mir bewusst geworden, dass dieses Land keine Demokratie mehr ist. Das tut weh, denn ich mag Ungarn. Die Ungarn, die ich kenne, sind warmherzige, kluge und oft sehr humorvolle Menschen. Orbáns Treiben finde ich allerdings, gelinde gesagt, hochgradig dysfunktional.
Bemerkung am Rande: Mir fällt auf, dass wir oft von Politik oder Geschichte reden und Dinge sagen wie: Deutschland hat dieses gemacht, und China wollte jenes nicht, und Polen fand das doof, und Ungarn macht diesunddas. Wir nehmen das ganze Land als Subjekt – das ganze Land, das ist für mich dann jeder einzelne Mensch, jede Kultur und Subkultur. Gemeint ist aber etwas anderes, nämlich die Regierung, die etwas soundso macht oder bewertet. Die Einwohner des Landes sind so vielfältig in ihrer Einstellung zur Regierung und ich finde, wir werden dem mit dieser vereinfachten Wortwahl nicht gerecht. Naja, ist eigentlich logisch, stört mich nur etwas.
Jetzt auf den Straßen von Budapest werden Stück für Stück die Wahlplakate auf den Litfaßsäulen überklebt. Wie ich das aus Deutschland kenne, war die Stadt zugepflastert mit Wahlplakaten. Die Wahl war letzten Sonntag, und die Wahlbeteiligung war ungewöhnlich hoch. Bis spätabends standen die Menschen Schlange, um ihre Stimme abzugeben.
Irgendwie hatte ich gedacht, dass es länger dauert, bis die Ergebnisse da sind, ich gebe zu, bei Politik bin ich nicht so der Checker, und deshalb schaute ich erst am Dienstag nach, wer gewonnen hat. Zweidrittelmehrheit für Fidesz, Orbáns Partei, und er hat sogar noch mehr Stimmen bekommen als bei der letzten Wahl.
Vielleicht, hätte ich das gewusst, wäre mir am Montag aufgefallen, dass die Dozenten in der Uni etwas frustrierter aussehen als sonst. Dass die Opposition gewinnt, wagte wohl niemand zu hoffen, aber gerade bei der hohen Wahlbeteiligung hätte niemand mit so einem für viele als katastrophal empfundenen Ergebnis gerechnet. Auch ich nicht, denn mein (zugegebenermaßen durch selektive Aufmerksamkeit beeinflusster) Eindruck war eher, dass viele Ungarn Orbán nicht mehr wollen. Viele mochten ihn von Anfang an nicht, aber ich glaube, auch manche früheren Fidesz-Wähler haben inzwischen Zweifel an seiner Politik.
Mir wurde einiges über die Wahlen erzählt. Ich habe nicht noch einmal nachgelesen, weil ich gar nicht wüsste, wo: Im Internet gibt es anscheinend vorwiegend die Auswahl zwischen mehr Propaganda oder weniger Propaganda. Bei den restlichen ungarischen Medien sowieso.
Jedenfalls war es dieser Vorgang der Wahlen, wo ich mir dachte: Definitiv keine Demokratie. Denn Orbán wurde nicht gewählt, weil Menschen seine Politik gut finden. Er hat sich die Wahlbedingungen einfach so gebastelt, dass er gar nicht verlieren konnte. Generell lief die Wahl sehr viel anders ab als das letzte Mal, auch die Wahlbezirke wurden neu aufgeteilt, nach größtmöglichem Vorteil für Fidesz. Auch hat er den im Ausland lebenden Ungarn mehr oder weniger das Wählen verwehrt. Diese bekamen keinen Wahlbrief zugeschickt, um ihr Kreuz zu machen. Dafür hätten sie nach Ungarn oder in die nächste ungarische Botschaft reisen müssen, und wenn da jemand zum Beispiel aus Freiburg nach Berlin fahren müsste für die Wahl, das macht es doch etwas schwer.
Vom Wahltag selbst habe ich nicht so viel mitbekommen. Am liebsten hätte ich mitgewählt. Auch hier lief einiges anders ab als sonst. Normalerweise ist es so, dass im Laufe des Tages kontinuierlich die schon eingetroffenen Stimmen gezählt und in regelmäßigen Abständen erste Ergebnisse bekannt gemacht werden. Auch dieses Mal warteten die Menschen gespannt darauf. Doch der Abend schritt immer weiter voran: keine Ergebnisse, nichts, Funkstille. Angeblich ein Problem mit den Computersystemen – für viele aber ein klares Indiz dafür, dass irgendwas nicht mir rechten Dingen zuging. Auch Informatiker sagen, es ist gut möglich, während dieser Funkstille die Wahlergebnisse umzuschreiben. Tja, da wusste ich erst einmal nicht, was ich dazu sagen soll.
Auch die ungarische Minderheit in Rumänien durfte wählen. Ob sie das dürfen sollen, war ziemlich umstritten, denn, so das Argument, die Menschen dort sind eigentlich rumänische Staatsangehörige und kriegen die Auswirkungen der ungarischen Politik nicht unmittelbar mit. Diese Menschen bekamen sogar Briefe mit Wahlzetteln.
Laut den Ergebnissen haben 95% dieser Menschen für Fidesz gestimmt. Das kommt mir extrem unwahrscheinlich vor. Ich hoffe echt, dass die ungarische Regierung nicht meinen Blog liest, jedenfalls, wenn man schon Wahlergebnisse fälscht, dann doch bitte so, dass dadurch nicht noch Vorurteile verstärkt werden. Auch viele Budapester, die tendenziell weniger Fidesz wählen, schauen missbilligend auf die Menschen im Umland, die tendenziell mehr Fidesz wählen: Die ungebildeten Leute da draußen mit ihrer engstirnigen Angst vor Migranten.
Angst, ja. Wie mir scheint, ist das genau Orbáns Ziel, und er ist leider mit der Treffsicherheit hoher emotionaler Intelligenz bzw. Manipulationsfähigkeit dabei, seine Ziele umzusetzen: Die Menschen in Ungarn haben Angst, sich gegen die Regierung zu äußern. Wer das tut, bedroht im schlimmsten Fall die eigene Existenz. Gerade wieder hat eine Zeitung ihre Produktion eingestellt. Auch da weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll. Ich kann es sehr gut verstehen, wenn jemand Angst hat. Nur, irgendwas muss man doch tun können!
Sind solche Regierungen wie Naturkatastrophen, die wir nicht beeinflussen können, denen wir uns anpassen müssen? Dann hätte Orbán sein zweites Ziel erreicht, nämlich, die Bevölkerung unpolitisch werden zu lassen. Oder wäre es möglich, gegen Orbáns Psychotricks mit eigenen Psychotricks anzugehen? Oder mit Streetart? Warum verbreitet er eigentlich Angst und Hass, habe ich mich gefragt. Möchte er nicht, dass die Menschen in seinem Land glücklich sind? Ich verstehe das nicht.
Den Menschen geht es oft nicht gut mit Orbáns Politik, das Gesundheitssystem ist in einem furchtbarem Zustand. Viele verlassen deshalb das Land und ziehen ins Ausland. Ich war in Budapest auf mehreren Demonstrationen, die sich nach der Wahl formten – die Menschen wachten auf, als sie sahen, wie sehr die Regierung einfach tut, was sie will. Viele zehntausend Menschen gingen auf die Straße, es war voll, aber friedlich. Immer wieder die Aufrufe, sich nicht unterkriegen zu lassen, im Land zu bleiben, zusammen Informationen zu streuen. Wobei Letzteres ganz enorm wichtig ist: Fast die gesamte Medienlandschaft ist eine von der Regierung kultivierte Monokultur (mit viel Pestiziden). Vor allem diejenigen, die keinen Internetzugang haben, können der allseits auf sie einprasselnden Propaganda kaum ausweichen (ich nenne das mal Propaganda, anhand dessen, was ich mal im Deutschunterricht gelernt habe). So eine Art Graswurzeljournalismus ist schon am Laufen, immer wieder hörte ich den Aufruf, selbst Flugblätter zu drucken und an Bekannte und auch Menschen auf dem Land zu verteilen – würde sich sicher einfacher gestalten, wenn die Regierung nicht gerade vor diesen Flugblättern warnen würde.
In Deutschland scheinen viele gar nichts von diesen Vorgängen in Ungarn zu wissen. Als ich hierher zurückkam, dachte ich mir einfach nur, puh, wie gut das alles hier funktioniert, Demokratie, mensch, die Regierung beschäftigt sich sogar mit dem Klimaschutz. Natürlich, sobald ich wieder umgeschaltet habe auf das Leben in Deutschland, sehe ich überall den Verbesserungsbedarf und die Mängel etwa der Umweltpolitik – aber es ist alles so dermaßen relativ bzw. kontextabhängig. Bei dem hohen Maß an Korruption und einfach gruselig rechtsgerichteter Mentalität in der ungarischen Politik erscheint Umweltschutz wie ein Luxusproblem… leider.
Ich hatte das Bedürfnis, das alles zu beschreiben, einfach um etwas zu tun – ich glaube, die Informationen zu streuen, ist zumindest ein Anfang. Und: Bitte verurteilt die Menschen aus Ungarn nicht aufgrund dessen, was die Regierung anstellt – das sind zwei verschiedene Dinge, die Regierung und die Menschen, und viele stehen absolut nicht hinter dem, was Orbán macht.
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