Allys hatte einen weiten Weg vor sich. Sie hatte es bereits erahnt, bevor er begonnen hatte (Oder hatte sie da gerade Anlauf genommen, bevor sie die Flügel ausspannte, um zu fliegen? Vermutlich).
Auf einer Wiese liegend, war Allys einem Spiel gefolgt. Es ging darum, sich ein Tier vorzustellen. Mit geschlossenen Augen, neben ihr lagen andere Jugendliche im Gras, ließ Allys ihre Gedanken schweifen, und diese waren voll Frieden und Natur. Ihr erschienen Landschaften, und spontan materialisierte sich vor ihrem inneren Auge das Bild einer trockenen Wiese. Irgendwo auf dem flachen Land könnte es sein, in Brandenburg, am Rand war eine Allee zu sehen. Die Pflanzen auf der Wiese, vor allem Gräser, wucherten wie wildes, zerzaustes Haar. Große, üppige, verblichene, magere, Sonne aufnehmende Pflanzen bildeten ein undurchsichtiges Meer, das Allys in seiner Bewegung beobachtete.

Nun sollte sie Ausschau nach einem Tier halten. Das war spannend. Denn dieses Tier würde Bedeutung haben für sie. Und tatsächlich kamen einige Tiere in ihr Blickfeld. Ein Vogel war das erste. Ziemlich bald wusste Allys aber, welches Tier ihre Aufmerksamkeit besonders in seinen Bann ziehen würde: Es war eine hübsche, grüne Raupe. Das Tier, leuchtend grün mit schwarzen Beinen und großen Raupenaugen, hielt sich an einem Halm fest und bewegte sich daran, griff mit seinen Beinchen und Scheinfüßchen um sich. Ohne sich um irgendetwas Gedanken zu machen, betrachtete Allys die Raupe und wusste: Das ist es. Dann versuchte Allys, die Raupe zu werden. Eine nicht ganz einfache Aufgabe, aber sie gab sich alle Mühe. Ich bin die Raupe, dachte sie, ich sehe durch ihre Augen, fühle durch ihren Körper, fühle Raupenschmerz und denke Raupengedanken. Raupengedanken wie, wo finde ich ein Blatt zum Fressen, überhaupt, in der Raupengedankenwelt ging es wohl fast nur ums Fressen, und außerdem bin ich ein Beutetier, muss mich vor Vögeln in Acht nehmen, muss mich im Gras verstecken. Allys stellte sich vor, wie es sein musste, die Notwendigkeit zu empfinden, einen Ort zu suchen, wo man sich einen Kokon bauen könnte. Sich vorbereiten auf den vermutlich vollkommenen Schlaf, und wenn ich aufwache, werde ich ein anderer sein.

Allys schlüpfte wieder aus dem Körper und Geist der Raupe in sich selbst hinein. Es war sehr interessant gewesen. Anschließend nahm sie Abschied von der Wiese, vom hellen Ackersonnenschein. Sie machte, nachdem sie die Bilder hatte nachwirken lassen, die Augen auf und fand sich zwischen offenen und entspannten jungen Menschen im Gras. Allys‘ Krafttier war eine Raupe, wusste sie nun. Eigentlich hatte sie für Mystik und Aberglauben nicht viel übrig, aber so musste sie es ja nicht sehen, sie war einfach neugierig gewesen, und jetzt war ihr ein Tier erschienen.
Metamorphose. Darum sollte es gehen. Allys sollte sich einen Kokon spinnen, den vollkommenen Schlaf schlafen, und als sie aufwachte, würde sie jemand anderes sein.
Ganz so drastisch passierte es nicht, aber doch so ähnlich: Allys fühlt sich heute wie ein anderer Mensch, als damals, als sie noch eine Raupe war. Sie fühlt sich erwachsen und bunt, jede schillernde Flügelschuppe wirft kristallenen Glanz zurück. Wenn sie ihre Flügel bewegt, ertönt der Wind.

Allys‘ Metamorphose fiel ihr sehr schwer. Sie wusste, es würde irgendwann dazu kommen, doch wie? Konnte sie das allein schaffen? Einen Kokon zu spinnen erschien ihr relativ einfach, und so begann sie, nacheinander Fäden aus der Luft zu ziehen und sie zu einem Kokon zu verknüpfen. Sie arbeitete mit großem Eifer und vollkommen allein. Sie erzählte nicht vielen von dieser Arbeit, die sie doch sehr einnahm. An nichts anderes konnte sie denken.
Wie sie aber einen immer komplizierteren Kokon formte und sich allmählich mehr und mehr darin verstrickte, merkte sie, dass das eigentlich nur dazu führte, dass sie sich vor der Realität verschloss. Niemand kam mehr an sie heran und auch sie kam an niemanden heran. Der Kokon war da, umfing sie, und sie konnte sich niemandem nahe fühlen. Immer wieder knüpfte und webte sie die ihr vertrauten Muster, fuhr sie mit den Fingern entlang und überlegte, wie und wo sie den nächsten Faden einweben sollte. Die Monate vergingen, und Allys merkte nicht, dass sie von ihrem eigenen Werk hypnotisiert worden war.

Die Metamorphose war notwendig, und Allys sehnte sie herbei, ohne zu wissen, wie sie anfangen sollte. Sie war inzwischen dringlich notwendig, denn in Allys hatte sich etwas eingenistet, das sie krank und unglücklich machte. Allys wusste nicht, was es war – deshalb hieß es für sie schlicht „ES“. Sie konnte an nichts anderes denken, als an ES. In ihrer Verzweiflung wollte sie ES nicht mehr haben, sie wünschte sich, ES wäre fort. Doch was war ES – war ES ein Teil von ihr, oder war ES etwas, das getrennt von ihr existierte?
Wie besessen formte Allys ihren Kokon, gab sich alle erdenkliche Mühe, dass die Metamorphose einsetzen konnte. Sie erwartete sie. Der Satz, den sie sich damals oft sagte, war: Alles wird gut. Immer glaube sie daran, und die Arbeit gab ihr Kraft. Doch ES zehrte an ihr, ließ ihr die Fäden aus der Hand gleiten, verwirrte und ermüdete sie, sodass sie nur mit Mühe ihre Arbeit fortsetzen konnte.
Was soll ich denn noch tun?, dachte Allys. Ich habe schon so viel Arbeit in diesen Kokon gesteckt, und ich weiß nicht weiter. Ich weiß nicht, welcher Weg mich zu mir führt.

Wer bin ich?

Werbinich, werbinich, werbinich?

Allys beschloss, sich Hilfe zu suchen. Sie war verwirrt, so verwirrt, dass niemand sonst ihre Verwirrung begreifen konnte. Es handelte sich um eine Verwirrung solchen Ausmaßes, dass sie kaum zu beschreiben ist. Als hätten die Naturkonstanten sich in Vanillesoße aufgelöst.
Deshalb, weil sie nicht weiterkam, beschloss sie, alle ihre Kräfte zusammenzunehmen und eine Reise zu wagen, eine Reise zum Orakel. Das Orakel vom Bonhoefferweg würde ihr sagen, wer sie war. Dann könnte ihre Metamorphose beginnen. Allys war fest davon überzeugt – und der Rest, der zweifelte, konnte nicht anders, als einfach zu hoffen.

Es war wahnsinnig umständlich gewesen, das Orakel ausfindig zu machen. Normalerweise schwieg es sich aus. Nur ganz wenigen Leuten war es bereit, etwas zu sagen. Prinzipiell jedoch war der Weg zum Orakel keiner bestimmten Klasse von Menschen vorbehalten – man musste es nur wollen, und man musste so sehr leiden, wie Allys es zum Beispiel tat. Vielleicht wusste sie es nicht, aber es gab viele verschiedene Formen von ES. Irgendwie würde das Orakel doch bestimmt wissen, wie sie damit umgehen sollte. Gab es Heilung? Tja, wollte Allys Heilung, oder wollte sie wissen, wer sie war? Das wusste sie manchmal auch nicht so genau. Aber im Prinzip dachte sie sich, dass sie, wenn das Orakel ihr ihre Identität mitgeteilt hätte, endlich in die Metamorphose übergehen und von allein gesund werden würde.
Ohje, war das alles kompliziert. Allys konnte kaum noch klar denken, und der Kokon umfing sie wie ein riesiges Gebilde aus wattig-seidigem Nebel. Vor ihr lag ein staubiger Weg, eine weiße Toga hatte sie um sich geschlungen und sie war barfuß. Einen Fuß vor den anderen setzend, schritt sie die 27,42 Meilen bis zum Orakel voran. Eigentlich hatte sie keine Geduld mehr, es musste jetzt passieren, und doch verging Tag um Tag. Jeder dieser Tage war unglaublich anstrengend, ein Kampf. Musste es so sein als Raupe? Was sollte das bloß?

Als sie endlich vor dem Orakel stand, war sie so aufgeregt, dass sie völlig neben sich stand. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte, alles war viel zu beängstigend. Wieder und wieder legte sie sich zurecht, was sie dem Orakel sagen wollte, wie ihre Frage lauten sollte. Denn wenn diese eine Gelegenheit verstrichen war, würde sich das Orakel ihr wieder verschließen, und erst eine lange Zeit später würde es wieder zu ihr sprechen.

Das Gebäude war aus Backstein, alt und sehr schön: Das Orakel vom Bonhoefferweg.
Dass man sie allerlei Dinge fragte, bevor sie hereingebeten wurde, störte sie nicht.
Irritierend war aber die Antwort, die sie vom Orakel zu hören bekam:
Gnothi seauton.
Erkenne dich selbst.

Allys war hochgradig enttäuscht von dieser Antwort. Gerade in dieser Frage hatte sie doch auf die Hilfe des Orakels gehofft! Erkenne dich selbst – wie? Deshalb war sie doch hergekommen, weil sie gerade das nicht konnte, nicht allein zumindest. Es war mehr als Enttäuschung.
ES fraß sie beinahe auf. Das Orakel hatte nichts für sie tun können.
Entkräftet, sich nicht verstanden fühlend, sank Allys auf die Treppe in den Gängen des alten, ehrwürdigen Orakeltempels. Wer war sie? War sie eine Fehlkonstruktion? Hatte sie sich ES nur eingebildet? Wofür hatte sie dann diesen Kokon gesponnen? Sollte sie eigentlich gar nicht sein? Und wo sollte sie hin?

Allys wusste es nicht, sie hatte nicht die geringste Idee, oder eher ein waberndes Knäuel von Ideen, doch nicht die geringste Energie, irgendetwas zu tun, ja ins Auge zu fassen. Alles, was sie tun konnte, war, auf der Treppe zu verharren. Sie weinte. Und wartete.Würde ein vorbeikommender Orakelpriester sie sehen und ihr helfen? Doch es war so, dass weinende Menschen wohl zum Bild des Orakels dazugehörten. Viele Menschen kamen her, hatten verschiedene Formen von ES im Kopf, oder ER oder SIE, und vielleicht noch nicht einmal die Ambition gehabt, einen Kokon zu spinnen. Vielleicht wussten sie gar nicht, wie das geht. Doch vielen von ihnen konnte das Orakel nicht helfen. Die Hoffnungen und Erwartungen bargen auch Enttäuschungen. So gingen die Priester an Allys vorbei.

Doch eine Frau hatte Mitleid. Sie arbeitete hier im Tempel. Ihr kleiner Laden, in dem sie allerlei interessante Dinge zu verkaufen schien, war gegenüber der Treppe, auf der Allys kauerte. Stundenlang saß sie weinend dort, so kam es ihr vor. Irgendwann kam die Hüterin des Ladens auf sie zu. Sie bot Allys ein Kissen an, damit sie nicht mehr auf dem kalten Stein sitzen musste. Das war wirklich freundlich von ihr, doch Allys war etwas zu verwirrt, um ihr Angebot anzunehmen, denn eigentlich stand es ihr doch gar nicht zu, überhaupt auf der Treppe zu sitzen und zu weinen, oder, eigentlich müsste sie gehen und für sich sorgen… Aber die Frau fragte wieder, und sie nahm schließlich an. Auch eine Packung Taschentücher bekam sie. Und noch etwas: Der Eingang des Orakels war mit Rosen geschmückt. Violett und weiß gestreift waren sie, frische, makellose Blumen. Eine von ihnen nahm die Frau und brachte sie Allys. Diese war ganz gerührt, „Ich mag Blumen“, sagte sie und sog den lebendigen Duft der Blüte in sich auf. Die Natur würde immer lebendig sein, würde sie immer aufnehmen, würde ihrer Verwirrung immer Halt geben. Auch wenn es nur ein fingerlanger Zweig mit einer kleinen Rosenblüte war, Allys fand Trost darin.

Sie konnte nicht ewig dort sitzen, auch wenn sie das zunächst vorgehabt hatte. Draußen schien die Sonne und es war warm, sehr warm für diese Zeit. Allys ging zwar nach draußen, doch weil sie immer noch nicht wusste, wohin, setzte sie sich auf eine Bank in der Sonne und weinte weiter.
Irgendwann kam ein junger Mann zu ihr und setzte sich neben sie. Er hatte ein Bild dabei, das er mit Buntstiften gemalt hatte, und eine Stelle an seinem linken Unterarm war mit weißem Verband umwickelt. Dieser Mann fragte Allys, was denn los sei. Doch Allys konnte ihm nicht sagen, was ihr fehlte. „Eigentlich ist alles gut. Ich fühle mich nur anders, seit immer“, so drückte sie sich aus, aber das verstand er sicher nicht, nun ja, auch egal. Wenn sie doch sowieso niemand verstand. Aber immerhin, man schenkte ihr Aufmerksamkeit. Und dann erzählte ihr der Mann von seinem Kokon.

Er hatte angefangen die Fäden zu weben, nachdem er Zeuge einer schrecklichen Grausamkeit geworden war. Er hatte den Krieg erlebt. Und nun war er hier, damit das Orakel ihm sagte, warum es überhaupt einen Sinn machen sollte, zu leben. Sein Kokon war unfertig und die Fäden zerrissen schnell. Das Orakel musste ihm helfen, sie zu knüpfen, notfalls mit etwas Kleber.
Das alles war so ein unverhältnismäßig großes Leid, dass Allys ihm nichts darauf antworten konnte und nur noch heftiger weinte. Nun ja, verglichen damit ging es ihr ja noch ganz gut…
Schließlich ging der Mann, mit dem Bild in der Hand, das er wohl benutzte, um seinen Kokon zu bauen.
Irgendwann ging auch Allys. Sie sollte dieses und andere Orakel noch einige Male besuchen, doch eine Antwort würde sie nie bekommen – keine andere als „Gnothi seauton“.
Wie sich die Metamorphose wirklich anfühlte, sollte sie einige Wochen später erleben. Der Kokon war bereit. Es brauchte eigentlich nur Mut, hineinzugehen, loszulassen und einzuschlafen. Der Wind würde kommen und sie im Schlaf schaukeln, die Sonne würde die bescheinen, und im Inneren des Gebildes würde sie sich so vollkommen umbauen, dass es aussähe, als würde sie aus völlig anderen Atomen bestehen.

Das passierte auch. Alles, was sie erlebt hatte, war dazu notwendig gewesen. Letztendlich gab es irgendwann einen Tag, an dem sie einfach nicht mehr konnte. Sie konnte die Außenwelt nicht mehr ertragen und jede Entscheidung, jede Begegnung, jedes an sie gerichtete Wort war ihr zu viel. Verzweifelt riss sie alle Verbindungen ab und flüchtete sich in den Schutz des Kokons.
Zu ihrer Erleichterung war der Kokon sehr gelungen. Es herrschte Ruhe, Frieden und Achtsamkeit. Allys machte sich klein, wie eine Katze sich einrollt. Auch fing sie an, lange Gespräche mit sich selbst zu führen. Sie sog den Duft der Blüten ein und stellte sich Fragen. Heute weiß sie, dass „Gnothi seauton“ keiner Antwort bedarf, sondern eher einer Einstellung, eines Gefühls. Fast ohne es zu merken, wuchsen neue Verbindungen in ihr, etwas baute sich um. Sehr seltsam war das.

Als sie etwas klarer denken konnte, beschloss sie, dass sie keine Blätter mehr zu fressen brauchte. Ab heute würde sie Nektar aus orangefarbenen Blumen saugen. Denn eine Raupe wollte sie nicht mehr sein. Und der Nektar, oh, wie interessant war das! Es war eine ganz neue Substanz für sie. Schon als sie nicht einmal eine Woche lang vom Nektar gekostet hatte, merkte sie, dass sie weniger Angst hatte und ES sie weniger heimsuchte. In ihrem Kokon fühlte sie sich inzwischen ganz wohl, obwohl er sie auch ziemlich von all ihren Mitwesen trennte.

Ein halbes Jahr danach war Allys ein Schmetterling. Sie behielt ihren kunstvollen Kokon, aus dem sie geschlüpft war, denn vielleicht brauchte sie ihn irgendwann wieder. Doch, oh, wie schön es war als Schmetterling! Wie schön es war, zu fliegen!
Allys, der Schmetterling, saugte den Nektar verschiedener Blumen und das tat ihr sehr gut. Sie hatte im Laufe der Zeit noch einige andere Orakel befragt und die Priester hatten ihr diese verschiedenen Blumen gegeben. Nun wuchsen sie in ihrer Nähe und Allys war dankbar dafür, denn ES machte ihr kaum noch Sorgen. Sie spürte wieder den Wunsch, sich der Welt zu öffnen, umherzufliegen und mit anderen Tieren auf der Wiese zu sein. Sie fing wieder an, Nähe zu anderen zu empfinden und liebte es, ihre bunten Flügel auszubreiten und sie in der Sonne schillern zu lassen.

Vielleicht lag ihr Wohlgefühl auch daran, dass sie sich eine neue Landschaft gesucht hatte als Heimatort. Sie fand es wunderbar, dort herumzufliegen und begann zaghaft, sich nach anderen Schmetterlingen umzusehen.
Sie teilte ihr Hier und Jetzt mit anderen. Der Frühling ließ Triebe erknospen.