Ein weitverzweigtes Gebäude umfängt mich, ich in seinen Gängen, die langen Korridore und wesensverschiedenen Hallen ein expandierendes Universum. Ich laufe durch eine Galerie voller abstrakter Gemälde. Neben- und übereinander hängen diese, größer und kleiner, vier- acht- und siebenundzwanzigeckig und rund, ein Sammelsurium abartiger bis hübscher Kunst. Doch alle Bilder haben eines gemeinsam: Ich kann nicht erkennen, was sie darstellen sollen. Das Einzige, was ich tun kann, ist zu vermuten, was sie wahrscheinlich darstellen.

Bleibe ich vor einem Gemälde stehen, sehe ich eine scheinbar unlogische Anordnung von Formen und Farben – es könnte ein Fisch sein, ein Menschengesicht, eine Schale, oder aber der Künstler dachte sich rein gar nichts dabei und schmierte nur Dada ins Bild.

Wahrnehmung ist etwas Konstruktives, will sagen, jede*r von uns konstruiert sich ein eigenes Bild von der Welt. Es ist ein wechselseitiger Prozess: Die Informationen strömen einerseits auf unsere Sinneszellen ein und werden ans Gehirn weitergeleitet – ein sogenannter Bottom-Up-Prozess. Doch vorgeschaltet und vorbewusst regelt das Gehirn, worauf wir unsere Aufmerksamkeit lenken und wie wir wahrnehmen, was um uns ist – ein Top-Down-Prozess. Etwas ganz wichtiges dabei ist der Kontext, und zwar der interne sowie der externe Kontext. Ein Beispiel für Kontext ist das Sprichwort „ich sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht“. Würden wir tatsächlich nur einzelne Bäume sehen, hieße das, wir vernachlässigten den Kontext – den Wald. Unsere Wahrnehmung scheint aber den internen Kontext, der auf unseren Erfahrungen beruht, ständig einzubeziehen, damit wir das, was unsere Sinne uns sagen, einordnen können. Das bedeutet: Wir bemerken erst den Wald, verstehen, was er bedeutet, und erst dann beschäftigen wir uns mit den Details der einzelnen Bäume. Wieder einmal beweist uns das Gehirn, dass es sehr effizient arbeitet und uns eine unnötige Verwirrung und Reizüberflutung ersparen kann.

Kontextsensitivität hilft uns auch, soziale Signale und Sprache zu verstehen. Woher wissen wir, ob etwas ironisch gemeint ist? Was bedeutet es, wenn jemand die Hand hebt? Wie können wir Tränen der Trauer von Tränen der Freude unterscheiden? Woher wissen wir, wie wir das Wort „Montage“ in einem Satz aussprechen müssen? Wie schließen wir auf die Bedeutung von Wörtern, die wir noch nicht kennen?

So einfach wie faszinierend: Der Kontext hilft uns. Um Situationen, Aussagen und emotionale Signale zu verstehen, betrachten wir das Gefüge drumherum, das davor und danach und unsere eigenen kontextbezogenen Erfahrungen. Ganz automatisch rufen wir diese ab, ganz ohne nachzudenken ergibt sich aus dem, was wir erfahren, ein sinnvolles und deutbares Geschehen.
Wäre die Welt also eine Galerie, wäre die Kontextsensitivität das, was aus abstrakten, unlogischen Gemälden sinnvolle Informationen bilden würde, sodass wir den Inhalt des Gemäldes verstehen würden und es uns überhaupt nicht unlogisch erscheinen würde. Was will uns der Künstler damit sagen? Der Kontext hilft uns, zu verstehen.

Stellen wir uns vor, wir hätten diese Fähigkeit nicht. Es wäre die Situation, die ich anfangs beschrieben habe. Wir würden durch die Welt laufen wie duch eine Galerie voll abstrakter Gemälde, die so ganz und gar keinen fassbaren Inhalt haben. Die Formen, Töne, Gesichter, Gegenstände wären so verwaschen und mehrdeutig, dass wir nur vermuten könnten, was sie bedeuten – aber es gäbe jedesmal noch tausend andere Deutungsmöglichkeiten. All das würde uns ziemlich verwirren, uns unsicher und orientierungslos machen.

Würden wir beispielsweise ein Geräusch hören, würden wir es erst einmal nicht einordnen können – es könnte Blätterrauschen sein, aber auch das Geräusch einer Straßenreinigungsmaschine, oder es könnte mein oller Computer sein, oder der Atem eines großen Dinosauriers. Da wir den äußeren Kontext nicht einbeziehen, sagt uns dieser auch nicht, dass – aufgrund des Zeitpunktes, Wetters, der Erfahrungen mit meinem Computer, dem Blätterrauschen und nichtvorhandener Dinosaurier – das Geräusch mit höchster Wahrscheinlichkeit eine Straßenreinigungsmaschine sein muss. Vielleicht würden wir sogar Angst bekommen, weil wir das Geräusch nicht einordnen können.
Wenn wir einen Korridor entlanggingen, würden wir eventuell plötzlich Angst haben, dass sich von hinten jemand nähert – nur um dann zu bemerken, dass die Schritte, die wir hören, unsere eigenen sind. Würden wir jemandem ins Gesicht blicken, bliebe uns die Mimik des anderen ein Rätsel. Wie geht es meinem Gegenüber, was denkt er oder sie? Absolut keinen Schimmer, ich weiß es nicht. Höchstwahrscheinlich ist dieser Mensch weder in Extase noch in einer abgrundtiefen Verzweiflung, doch kann ich das mit Gewissheit sagen?

Und was will dieser Mensch von mir? Wie ist diese Aussage gemeint? Ist es ein Flirtversuch oder einfach nett? Ist da jemand traurig oder nur erschöpft? Erwartet die Behörde eine Antwort oder nicht?
Ohne Kontext ist die Welt ein Rätsel, dunkel, neblig und verworren, ein semantisches Vakuum. Wir tasten uns zwischen nebulösen Aussagen umher, können die Absichten anderer Menschen genausowenig einschätzen wie ihre Gesinnung uns gegenüber.
Doch die meisten Menschen sind kontextsensitiv, und das macht unsere Verständigung recht effektiv. Ganz automatisch ist unsere Kommunikation geprägt von Mehrdeutigkeiten und verkürzten, unkonkreten Aussagen, weil wir wissen, dass der Kontext die fehlenden Informationen ergänzt. Wenn es anders wäre, müssten wir jede unserer Aussagen so eindeutig ausformulieren, als wäre es ein Paragraph in der Strafprozessordnung – das wäre doch ziemlich mühselig.

Einzig auf der rein logischen Sachebene, wenn Dinge ganz eindeutig formuliert sind, braucht es keinen Kontext, um zu verstehen. Das ist auch in den Naturwissenschaften so, wo nur die Logik, nicht aber der Kontext den Inhalt bestimmt. Ein Gedicht zu interpretieren ist in dieser Hinsicht etwas ganz anderes, als ein biologisches Modell zu verstehen.

Nun, warum ich das alles schreibe – ich möchte ein relativ seltenes und schwer zu erklärendes Phänomen verständlich machen, nämlich Kontextblindheit.
Eingeführt wurde der Begriff, um in einem neuen Ansatz Autismus zu erklären und zu beschreiben. Viele Studien bestärken die Hypothese, dass die typischen Probleme von Autisten tatsächlich auf einer eingeschränkten Einbeziehung des Kontextes beruhen. Das würde erklären, warum es Autisten so schwerfällt, soziale Signale zu deuten und sich in unterschiedlichen Situationen angemessen zu verhalten. Viele können außerdem Regeln nicht flexibel an die Situation – also den jeweiligen Kontext – anpassen. Auch die Probleme mit der Reizüberflutung könnten dadurch erklärt werden: Mangels Kontext erscheinen alle äußeren Reize als gleich wichtig, Unwichtiges wird nicht richtig ausselektiert und das Gehirn stattdessen mit Details überfrachtet. Dass das zu Überforderung führt, ist logisch.

Ich selbst empfinde es so, als würde ich jeden Tag durch diese seltsame Galerie voll unlogischer Bilder wandeln – ich meine, sie sind ja ganz hübsch, aber daran, wie andere Menschen vor den Bildern stehen und über sie diskutieren, merke ich, dass die verstehen, was dort abgebildet ist und viel mehr kapieren, als ich. Ich versuche, mir nichts angemerken zu lassen, aber insgeheim habe ich doch Angst. Was, wenn das Bild vor mir etwas ganz gruseliges darstellt, und ich erkenne das nicht? Was, wenn ich lächelnd ein Bild betrachte, und jemand anderes läuft irritiert an mir vorbei, weil ich eigentlich eine ganz brutale Szene vor mir habe? Was, wenn ich nicht mitlachen kann, wenn andere zusammen vor einem Bild stehen, weil ich nicht verstehe, was daran lustig ist? Was, wenn ein großes, mit tausenden Farben und Formen überladenes Gemälde mich komplett überfordert, weil ich die Szenerie, die es darstellt, nicht erkennen kann?

Situationen nicht einschätzen zu können, macht oft Angst, und Situationen, um sie zu verstehen, jedes Mal analytisch durchdenken zu müssen, ist oft anstrengend.
Deshalb mag ich auch Wissenschaft so gerne: Dass ich verstehe, was vor sich geht und was gemeint ist, die Logik in allem, das ist wahnsinnig befriedigend und entspannend. Ich liebe es, wenn sich Dinge in eindeutigen Kategorien vor mir entfalten, wenn Modelle schnörkellos in logischen Erklärungen münden, wenn Algorithmen in ihrem Funktionieren die Welt ein wenig vorhersagbarer machen. Manchmal habe ich den Eindruck, gleichzeitig intelligent und dumm zu sein: Ich verstehe zwar komplizierte wissenschaftliche Texte, aber dass jemand mit mir flirtet, kapiere ich erst, wenn ein anderer mir das sagt. Gibt es keine wissenschaftliche Gebrauchsanweisung für solches Zeug wie, naja, Liebe? Hehe… hm.

Natürlich verstehe ich, dass die Welt unerklärlich, mehrdeutig und unlogisch bleibt und dass das nicht nur mir so geht – es ist ein Umstand, mit dem alle Menschen sich irgendwie arrangieren, weil unsere Erkenntnis trotz Kontextsensitivität Grenzen hat. Das merkt mensch ja allein an den häufigen Missverständnissen, die auf uneindeutiger Kommunikation beruhen.
Es ist manchmal etwas frustrierend, dass diese verminderte Kontextsensitivität etwas ist, das mir niemand ansieht und das es mir doch so schwermacht, mich im Erwachsenenleben zu orientieren.

Ich tröste mich damit, dass es auch Vorteile haben kann, den Kontext weniger zu nutzen als andere: Allen voran lasse ich mich weniger von Stereotypen und Vorurteilen beeinflussen und gehe unvoreingenommen an Menschen heran – ich weiß schließlich nicht, wie sie so sind. Diese Offenheit für Menschen und Situationen lässt mich neugierig bleiben, wo andere skeptisch sind und gelassen bleiben, wo andere längst ihre Prognose gegeben haben – denn ich denke mir: Es könnte so oder so sein oder kommen, doch es gibt noch tausend andere Möglichkeiten. Kontextblindheit kann also mit der Fähigkeit einhergehen, Unsicherheiten besser zu ertragen – das nennt sich auch Ambiguitätstoleranz und ich glaube, das ist eine ganz coole Persönlichkeitseigenschaft.

Ein Buchtipp: Vermeulen, Peter: Autismus als Kontextblindheit. Vandenhoeck & Ruprecht, 2016