Julai wurde von griechischen Buchstaben verfolgt. Sie machten alle Sinn.

Aber das Ψ [Psi], wie soll man sagen, war am hartnäckigsten. Eines Tages bekleidete sie sich mit ihrer Lieblingsjacke, einer schwarzen, die sie für zehn Euro im Second-Hand-Laden gekauft hatte. Da sah sie sich die superpraktischen, großen Taschen der Jacke an und dachte: Das Ψ würde sich darauf hervorragend machen. Und so malte die ein Ψ auf ein Stück Stoff und nähte es an ihre Jacke. Damit lief sie umher, und fühlte sich großartig und unangenehm exzentrisch zugleich, so als würde sie sich ihrer selbst schämen, aber irgendwie auch den Kick wollen. Schräger Vogel, diese Julai.

Sie zeichnete Ψ überall hin, wo sich Platz dafür fand. Sie war verliebt in Ψ. Sie blätterte in Büchern über Ψ, zum Glück gab es einige in der Bibliothek, die sich vermutlich dort etwas fremd fühlten, und entdeckte die Freunde von Ψ. Es waren zum Beispiel α und β. Das α hatte eine ganz wichtige Rolle für Ψ. Man könnte fast sagen, das meiste an Ψ orientierte sich an α. Doch eigentlich war das manchmal gar nicht so sinnvoll, riet ihm Ψ’s bester Freund – dieser hieß Φ [Phi].
„Pff“, sagte Ψ zu Φ, „was willst du mir schon sagen? Wie groß ist denn bitte dein α und dein β? Du hast gar keine, stimmts? Sag mal, was weißt du denn dann überhaupt? Eigentlich so ziemlich gar nichts oder? Du stocherst nur im Nebel herum und lässt wolkenartige Wortblumen erblühen! Dann kommen Bienen und -“ doch Φ unterbrach.

„Komm mal runter, liebes Ψ. Hast du denn ganz vergessen, wie alles begonnen hat? Wer dich überhaupt hervorgebracht, wer dich ernährt, wer dich den Menschen zugänglich gemacht hat? Ich war es, das Φ!“.
Und Ψ konnte nicht umhin, das zuzugeben. Doch, nun ja, Ψ war noch sehr, sehr jung. Sehr jung für eine Wissenschaft. Was sollte man da sagen, Φ war dagegen ungefähr so alt, wie der Mensch selbst! Und auch ohne α und β war Φ so weit gekommen, hatte den Menschen so viel gegeben, so viel Einsicht, so viel Entwicklung, so viel Seelenruhe durch Erkenntnis. Ψ diagnostizierte Minderwertigkeitsgefühle und begann, seine Meinung zu relativieren (und sich die pauschale Selbstabwertung durch kognitive Umstrukturierung abzugewöhnen, go for it, yeah!).
Dann sagte Ψ: „Sag mal, eigentlich ist das doch bescheuert, wenn wir uns streiten oder? Weißt du, manchmal weiß ich nämlich gar nicht, wie ich uns beide auseinanderhalten soll!“
Und Φ sagte: „Das ist richtig. Was mich an dir immer wieder einmal wundert, ist: Was willst du eigentlich? Was kannst du dem Menschen geben, das ich nicht geben kann?“
Und so schwiegen beide und sannen nach.

Julai unterdessen lauschte dem sanften Rauschen ihrer Alphawellen. Es fühlte sich großartig an. Beflügelt von der empfundenen Einfachheit des Seins in einer komplexen Welt, betrat sie einen Buchladen und sah sich dort um. Es war ein Buchladen des Jahres 2018. Das Universum war etwa 13 Milliarden Jahre alt.
Was sie sah, war das auf engem Raum zusammengepferchte Produkt eines Marktes, der sowohl den Zeitgeist aufgriff, wie auch diesen nährte: Bücher und Magazine leuchteten sie an. Julai leuchtete zurück. Und überall fiel ihr Blick auf Ψ. Erstaunlich, nicht wahr? Dabei war Ψ noch so jung. Und was konnte es den Menschen bloß geben?
Der aktuelle Zeitgeist brannte sehr auf Ψ und Julai hatte ein äußerst seltsames Gefühl, als die begriff, dass sie mit ihrem Interesse sehr zum Zeitgeist passte. Julai mochte es nicht, Mainstream zu sein und brauchte eine ziemlich lange Zeit, um diese Tatsache ein klein wenig akzeptieren zu können. Andererseits interessierte sie kaum ein Buch, das ihr hier im Laden Ψ verhieß und mit lebensrelevanten Themen lockte. Viele Bücher handelten von Glück, davon, sich selbst zu mögen, sich Gutes zu tun, richtig zu streiten, richtig zu lieben, richtig Fehler zu machen, richtig zu denken, im Moment zu sein. Mindstyle.

Was ein Wort, „Mindstyle“! Irgendetwas in Julai protestierte heftig. Wenn ich mich für Ψ interessiere, für Meditation, für kognitive Therapien, ist das doch kein „Mindstyle“! Wenn mich das Gehirn des Menschen fasziniert, bin ich doch nicht auf Sensationen aus, sondern möchte alles, jeden Gyrus, jeden Sulcus und Nucleus darin verstehen! Ich will kein Lifehacking, kein Brain-Optimizing, was soll das, wütete Julai. Das Hobby der Selbstoptimierung durch wissenschaftlich fundierte Methoden, präsentiert in bunten Magazinen im Buchladen, fand Julai befremdlich. Richtig streiten, richtig lieben, richtig Fehler machen, richtig denken… natürlich wollte Julai das auch, sie arbeitete daran, seit sie sieben Jahre alt war. Aber Julai hatte ihre eigenen Erkenntnisse dazu. Julai hatte auch gelesen, das ja. Julai hatte auch nachgedacht. Julai hatte ureigene Gedanken. Weil Julais Mind irgendwie schwer zu stylen war. Zugegebenermaßen, gäbe es ein buntes Hochglanzmagazin, in dem stand, wie Minds wie das von Julai zu stylen waren, dann wäre sie begeistert. Vermutlich.

Ein bisschen fragte sich Julai, wohin das alles führen sollte. War Ψ für manche Menschen eine neue Religion? Na klar, Ψ gibt Orientierung, gibt Erklärung, wie zu handeln. Das, was Φ schon immer für manche Menschen war. Julai mochte Φ und Ψ gleich gern. Denn die Erkenntnisfähigkeit von Ψ war begrenzt. Φ dagegen konnte alle Erkenntnisse, die es gab, verwenden, und auf neuer Ebene aus diesen Erkenntnisse produzieren. Irgendwie so. Vereinfacht ausgedrückt.

Julai kaufte also nichts im Buchladen, sie ging ohnehin oft in Läden und verließ sie dann, ohne etwas gekauft zu haben. Sie brachte wehmütig ihre Bücher über Ψ zurück zur Bibliothek, denn irgendwie waren sie noch ein bisschen kompliziert, es war noch nicht an der Zeit.
Doch hatte sie längst beschlossen, diese Bücher irgendwann verstehen zu wollen.

Ja, Julai wird Ψ studieren. Sie freut sich unglaublich darauf. Ψ erklärt 41% der Varianz ihrer Freude.