Es heißt ja „Wrong Planet Syndrome“. Das ist kein Witz. Es vergeht nicht ein Tag, an dem ich mich nicht über das Mensch-Sein wundere. Heute zum Beispiel: Wenn unsere Wahrnehmung alles konstruiere, was konstruierte dann uns? Oder kann das Konstruierende sich selbst konstruieren? Denn, soweit ich den mathematischen Beweis als gültig betrachte, enthalten alle Theorien Voraussetzungen, die nicht durch sie selbst erklärt werden können. Und die brennende Frage: Warum, um alles in der Welt, wundert sich keiner darüber? Aber gut. Mensch sieht: Wrong-Planet-Empfindungen mögen ein fruchtbarer Boden für gute Philosoph*innen sein.

Ein weniger schöner Aspekt ist allerdings, dass ich das, was auf diesem Planeten vor sich geht, größtenteils einfach nicht verstehe. Als wäre ich in einer außerirdischen Zivilisation gelandet, die einem gewissen Kodex folgt, in der die Individuen mit seltsamen Antennen ausgestattet sind, um elektro-psychologische Wellen wahrzunehmen. Häää, denke ich, ich steige nicht durch. Ich lese Bücher über Psychologie, um ein bisschen was zu verstehen und frage Menschen meines Vertrauens nach der Definition von Freundschaft. Ein Autismusforscher sagte mal, in seinen Psychologievorlesungen würden gewiss einige Leute mit Wrong-Planet-Syndrom sitzen. Ich kann bestätigen: Vor allem Sozialpsychologie hilft dann doch ziemlich, die geheimnissvolle, hypersoziale Spezies Homo Sapiens zu verstehen. Inzwischen begreife ich auch einiges mehr, das ist gut. Theaterstücke (und Politik, haha) geben mir allerdings nicht viel, das ist für mich ein unlogisches, dadaistisches Geschehen. Vive Dada!

Das Anthropozän ist auch eine Welt, in der alles ein wenig zu schnell und zu intensiv geschieht (Sogar dafür gibt es einen Begriff: Intense World Syndrome. Wieder eine Art Synonym für autistische Wahrnehmung). Jede Textur, jedes Muster, jede Veränderung überfällt mich mit voller Wucht und ich denke: Wow, gib mir vierzehn zeitlose Versunkenheiten um diesen Vorgang zu verstehen, und bitte, nicht schon wieder der nächste Input. Das ist der Punkt, wo sich meine innere Hyperaktivität und die gleichsam vorhandene Sensibilität nicht einig werden können, sich daraufhin raufen und die erschöpfte Wirtin beider Geschöpfe vor sich hin vegetierend im Graben liegen lassen. (Oh man, heute bin ich echt virtuos). Was mir letztens aufgefallen ist, ist, dass in gewisser Weise sich Kants Transzendentalphilosophie mit dem Konstrukt des Wrong Planet Syndrome verbinden lässt. Klingt schräg, ich weiß. Vor allem muss ich dazusagen, dass ich Kant nur zu geringen Teilen im Original gelesen habe, diese Schachtelsätze sind einfach ein Graus für jegliche Unkonzentriertheit.

Mir ist aber hängengeblieben, dass Kant gewisse Vorbedingungen der Erkenntnis benennt. Das ist ja gerade das, was ich in der Psychologie lerne: Wahrnehmung ist etwas Konstruktives, Erinnerung ebenso, also wird auch Erkenntnis (was auch immer das sein mag) etwas Konstruktives sein. Sozusagen die Verbindung von Rationalismus (Erkenntnis durch Vernunft) und Empirismus (Erkenntnis durch Erfahrung). Aber unter welchen Bedingungen, auf welche Weise, wird konstruiert? Das ist ja das eigentlich Spannende. Kant meint, es wäre zum Beispiel Voraussetzung, dass wir in Kategorien von Raum und Zeit denken. Das haben wir uns nicht ausgedacht, das ist eine Eigenschaft unseres Erkenntnisapparates. Hast du dir schon einmal vorzustellen versucht, was vor dem Urknall war, oder was in einem schwarzen Loch passiert? Es geht nicht, denn ein „davor“ oder „es passiert“ würden einen Begriff der Zeit voraussetzen, und in einem schwarzen Loch gibt es irgendwie keine Zeit (wenn ich das richtig verstehe). Sich das vorzustellen (und nicht nur theoretisch zu wissen) halte ich für ziemlich unmöglich.

Weitere Bedingungen sind, dass wir in Kausalitäten denken. Wenn ich einen Ball auf mich zurollen sehe, schaue ich nach, woher er kommt (vermutlich hat er sich nicht aus der Luft manifestiert). Wenn ich eine Berührung spüre, überlege ich, wer mich berührt. Dinge, die raumzeitlich nah beieinander auftreten, halten wir für Ursache und Wirkung. Das ist anscheinend einfach so. Und was würden wir schon von der Welt wissen können, wenn wir keine Kausalitäten annähmen, wenn wir dafür kein Gespür hätten? Alles wäre absolut unzusammenhängend und verwirrend. Auf die Welt zu kommen und nichts als einen Atombrei vor sich zu sehen, ist evolutionär unvorteilhaft.
Die Theorie geht noch weiter, Kant hat so einiges Kluges formuliert, jedenfalls ist mir irgendwann ein Experiment eingefallen, und ich dachte, okay, vielleicht passt das ja irgendwie zusammen.
Es ist im Grunde ziemlich simpel: Proband*innen sollten sich einen Film mit ein paar schwarzen Dreiecken auf weißem Grund anschauen, die sich bewegen. Da ist so ein offenes Rechteck, in das sie sich rein-und rausbewegen, manchmal kreisen sie auch umeinander. Die Proband*innen sollten beschreiben, was sie in der kurzen Animation gesehen haben.

Mensch könnte denken, okay, das ist reine Geometrie, und die Dinger bewegen sich einfach in irgendeine Richtung, das Rechteck geht auf und zu, mit diesen Begriffen lässt sich das Geschehen präzise (wenn auch etwas umständlich) beschreiben. Doch die Probandis taten etwas Anderes: Sie benutzten mentale, oder anthropomorphe Begriffe zur Beschreibung. Sie sahen, ohne nachzudenken, die geometrischen Formen als mentale Wesen an! Einheiten mit Absichten, Gedanken, inneren Vorgängen also. Da kamen Aussagen wie „das eine Dreieck verfolgte das andere“, „das Dreieck versucht, herauszukommen“, „die Dreiecke kämpfen“. Die meisten Probanden verknüpften die Animation zu einer schlüssigen Geschichte, sie unterstellten den Dreiecken so etwas wie Persönlichkeiten, oder gingen davon aus, hier werde eine Art Liebesgeschichte dargestellt, in der zwei Männer um eine Frau konkurrieren. Ich denke mir so, meine Güte, woher seht ihr das? Für mich sind es unzusammenhängende Bewegungen von Dreiecken. Hm.

Mich fasziniert das. Das Buch, das ich gelesen habe und in dem das Experiment zitiert wurde, benutzt den Begriff „Mentalizing“ dafür, dass Menschen in anderen Individuen mentale Zustände erkennen oder ihnen diese zuschreiben. Das hat mich zum Nachdenken gebracht: Menschen scheinen extrem gut im Mentalizing zu sein und es ständig und unbewusst einzusetzen. Ich meine, es sind Dreiecke. Und doch erkennen Menschen in ihnen mehr – so ähnlich, wie das Prinzip der Kausalität unzusammenhängenden Vorgängen einen höheren Informationsgehalt mit gleichzeitiger Vereinfachung verleiht. Wäre das nicht auch so eine Vorbedingung der Erkenntnis im Sinne Kants?

Interessant finde ich auch, dass diese Arbeitsweise unseres Erkenntnisapparates manchmal so hyperfunktional ist, dass wir zu – mal ganz nüchtern betrachtet – sehr merkwürdigen Schlüssen gelangen. Wir wenden das Mentalizingprinzip zum Beispiel auf die Evolution an. Die Evolution bedingt ziemlich komplizierte Dynamiken – was Menschen nun machen, ist, dem Naturgesetz der Evolution mentale Zustände, nämlich Absichten zu unterstellen. Können Arten Absichten haben? Sie sind doch keine mentalen Einheiten! Und doch: „sich eine Nische suchen“, „die Art erhalten wollen“, „die Evolution hat sich das so gedacht“, „die Art macht das ganz schlau“, Aussagen dieser Art machen wir häufig, wenn wir über Biologie reden. Selbst in Hawkings „Eine kurze Geschichte der Zeit“ finde ich mentale Begriffe, etwa wenn es um das Licht geht, das tragischerweise dem Ereignishorizont eines schwarzen Loches zum Opfer fällt. Komisch, oder? Aber so können Menschen total komplizierte Dinge (wie schwarze Löcher) viel besser verstehen, weil sie einfacher und anschaulicher werden. Menschen machen das auch, wenn sie sich über Politik unterhalten, und schreiben ganzen Ländern Absichten und Gefühle zu. Das ärgert mich oft, weil ich das einfach unpräzise finde: Nicht das ganze Land denkt ja so, sondern einzelne Politiker und Gruppierungen!

In dem Experiment mit den Dreiecken gab es übrigens einen Probanden, der (fast) keine mentalen Begriffe benutzt hat, sondern die Vorgänge so, wie sie waren, geometrisch beschrieben hat. Jetzt ist die Frage, ist das einfach besonders präzise (ohne anthropomorphen Bias, der ja eine Art kognitive Verzerrung ist), oder ist das unnormal? Haben manche Menschen vielleicht Schwierigkeiten im Mentalizing? Sind für mich Theaterstücke und Politik so etwas wie sich bewegende Dreiecke, kommt mir das deshalb alles so zusammenhanglos vor? Weil ich keine mentalisierende Geschichte dazu „erfinde“? Da ich manchmal wirklich das Gefühl habe, viel weniger von solchem Zeug zu verstehen, außer jemand vermag es mir ganz präzise zu erklären, halte ich diese Theorie für einigermaßen schlüssig. Es ist, mal so nebenbei, extrem uncool, wenn jemand stundenlang mit mir flirtet und ich das einfach nicht checke! Woher auch, sag mir doch einfach, was du willst. Was wollen diese Wesen um mich herum? Tja. Einfach unverblümt nachfragen hilft manchmal.

Und, Pro-Tipp: Psychologie studieren. Ich habe jetzt nämlich auch Zugang zur Testbibliothek *glückselig vor sich hin flatter*. Dort habe ich mir einen Persönlichkeitstest ausgeliehen, den ich an bestimmte Menschen verteile, mit der Bitte, ihn ehrlich auszufüllen. Es sind vor allem Menschen, die ich nicht richtig einzuschätzen weiß – ich kann nicht vorhersagen, wie sie handeln, was sie wollen, welchen Normen sie folgen, wie sie mit mir umgehen, ob sie mich verletzen könnten, ob sie mir ähnlich sind. Diese ständige Unsicherheit ist für mich normal, aber manchmal führt es dazu, dass ich große Angst vor bestimmten Personen bekomme, einfach weil ich sie nicht einschätzen kann. Bei manchen Personen ist das überhaupt nicht so und ich frage mich, warum – manchmal habe ich überhaupt keine Angst, manchmal ganz viel, und das war schon immer so. Nunja, aber mit Zugang zu halbwegs validen Tests (die eigentlich ganz schön viel Geld kosten) kann ich mir eine Art Prothese für mangelnde Menschenkenntnis basteln. Ich bin gespannt, wie das wirkt.

Ojemine, da hab ich jetzt einiges durcheinandergeschwurbelt…! Wenn jemand einen fachlichen Fehler entdeckt, gerne bescheidsagen 🙂

Das erwähnte Buch ist dieses (glaube ich): Baron-Cohen, & Psychologe. (1995). Mindblindness : An essay on autism and theory of mind (2. pr. ed.). Cambridge, Mass. [u.a.].