Die Vektoren rufen mich mit Sirenengesang; ich kann nicht nein sagen ob dieser Klausur, die frisch gedruckt auf mich wartet. Vektoren zu verstehen ist eigentlich ganz einfach, aber sich die Angst zu nehmen, die da lautet „was, wenn ich die Vektoren doch nicht verstehe“, das ist weniger einfach. In einem Satz: Die Anzahl bevorstehender Prüfungen ist negativ korreliert mit der Frequenz geistiger Ergüsse in Form von Blogbeiträgen. Schade, echt.

Ich durfte letztens (naja, ist schon was her) einer Umweltpsychologin lauschen, die von ihrem Projekt erzählte. Sie klang ziemlich begeistert. Es geht darum, dass die Mitarbeiter*innen an einer Uni sich verpflichtet haben, ihre Flugreisen zu reduzieren – zwischen 3 und 20% in den nächsten sechs Jahren. Es scheint besonders spannend zu sein, welche Diskussionen in der Uni aufkommen, welche Argumente, welche Lösungsvorschläge.
Ich fand das total interessant, denn mir wäre es super wichtig, dass mehr über dieses Thema gesprochen wird. Unglücklicherweise ist es ein enorm schwieriges Thema.

Wieviel andere darüber wissen, kann ich, die viel unter Ökos unterwegs ist, manchmal nicht richtig einschätzen – mir scheint aber, dass den meisten Menschen zumindest nicht die volle Größenordnung bewusst ist, nämlich, wie klimarelevant Flugreisen tatsächlich sind. In höheren atmosphärischen Schichten kann sich der Effekt des Treibhausgases verdreifachen. Ozonbildung und Kondensstreifen beeinflussen die Atmosphäre teils mehr als das CO2 aus der Kerosinverbrennung. Fliegen ist (mit Kreuzfahrten) eine der Tätigkeiten mit den höchsten CO2-Emissionen pro Stunde und Person (ca. 200kg1). Wissenschaftler*innen fliegen in ihrem Beruf in der Regel ziemlich viel – für weit entfernte Konferenzen, auf Expeditionen, oder, weil es irgendwelche Vorschriften gibt, nach denen bestimmte Personen anwesend sein müssten, um irgendetwas zu unterzeichnen. Weil Unis auch, schönes Wort, Multiplikatorwirkung haben (die Streusandbüchse inspirierender Gesellschaftsveränderung), finde ich es ganz vernünftig, dort – endlich mal – über Alternativen zu Flugreisen zu sprechen und Schritt für Schritt das Verhalten zu ändern.

Wusstest du, dass es in Schweden ein Wort dafür gibt, wenn mensch sich für seine Flugreisen schämt, weil sie so klimaschädlich sind? Flygskam – Flugscham.

Many Northern Europeans have “flying shame” because of the climate: they stay on the ground while traveling. Rail travel is becoming increasingly popular. Some people in Sweden are cutting down on flying, and believe the carbon emissions are a matter of shame. The word for it is “flugsham” or “flygskam” and this is becoming a common concept, akin to ‘flying less” in English. A celebrity athlete is well know for only travelling to sporting events if he can get there by train. […] People realise that we cannot go on with expanding aviation. A Facebook page on travelling by long-distance rail, rather than flying, had 30,000 followers in a few months. As well as the hashtag #flyingless there is the Swedish counterpart in #jagstannarpåmarken: “I’ll stay on the ground”2

Ich mag ja keine langen Zitate, aber das find ich einfach so schön zu lesen. Weil Wissen allein oft nicht so viel bringt (zumindest weniger, als die meisten annehmen), aber wenn es Menschen gibt, die die Norm teilen – das macht schon einen Unterschied!

Flugreisen sind, wenn ich an meine bisherigen Diskussionen zurückdenke, auch deshalb ein schwieriges Thema, weil hier verschiedene wichtige Normen in Konflikt geraten. Menschen haben ein wahnwitzig großes (sorry, berechtigtes…) Bedürfnis nach Sozializing. Menschen lernen manchmal Leute aus anderen Ländern kennen. Menschen wollen manche Probleme auch gerne mit internationaler Beteiligung lösen (ist ja auch wichtig!). Menschen meinen, mit Reisen ihren Horizont erweitern zu können. Oder sie sind einfach neugierig.

All diese Motive sind durchaus nachvollziehbar – vermutlich wissen viele Menschen auch, das Flugreisen klimaschädlich sind, entscheiden sich aufgrund ihrer Wertehierarchie dann doch für „ich will XY besuchen“ und suchen sich, um nicht so ein unangenehmes Gefühl dabei zu haben (auch kognitive Dissonanz genannt), Argumente, die ihr Verhalten rechtfertigen. Dem Gefühl ist damit genüge getan, der Umwelt leider nicht. Es ist auch so, dass mensch eine Flugreise leider kaum mit einer anderen umweltschonenden Verhaltensweise kompensieren kann.

Zum Beispiel könnte mensch denken: Nun, dafür fahre ich weniger Auto. Aber bei einem Blick auf die Zahlen geht die Rechnung nicht auf. Beispielsweise  bedeutet ein Flug von Berlin nach New York ca. 2,5 Tonnen CO2 (-Äquivalente) pro Person. Ein Jahr Autofahren mit einem Mittelklassewagen (12000km) bedeuten 2 Tonnen CO2. Ich dürfte also mehrere Jahre kein Auto fahren (mal abgesehen davon, dass das Konzept der Kompensation auch kritisch betrachtet werden kann – der Schaden ist ja da, egal ob kompensiert oder nicht). Auch andere umweltschonende Verhaltensweisen sind von ihren Effekt her meist zu gering, um eine Flugreise, auch nur eine innereuropäische, kompensieren zu können – da kann mensch noch so viel Bio kaufen, mit einer Flugreise ist die Ökobilanz „kaputt“.

Ich habe aber auch gelernt, die Sache differenziert zu betrachten. Es gibt nämlich Abstufungen zwischen „Nur-so-aus-Spaß“-Flugreisen und „Ich-muss-zur-Konferenz-den-Weltfrieden-basteln“-Flugreisen. Es gibt Bereiche, in denen besonders viele Flugreisen anfallen und in denen sie auch vermeidbar wären. An Unis zum Beispiel – wenn dort die Systeme zur virtuellen Kommunikation zum Beispiel so gut wären, dass mensch die physische Anwesenheit gar nicht vermisst, das wäre doch was. Oder die Fahrtkostenerstattungs-Regeln und überhaupt Regeln, ach ja, und Steuern, so gestalten, dass umweltschonendere Fortbewegungsmittel attraktiver werden. Die größten Vielflieger-Stätten haben vernünftigerweise Priorität, aber ich denke, es ist sehr sinnvoll, auch auf individueller Ebene das eigene Verhältnis zu Flugreisen zu hinterfragen.

Die Erfahrung, in einem anderen Land gewesen zu sein, ist zwar nicht leicht zu ersetzen, aber ich finde, eine Art Kulturschock lässt sich auch mit einer Offenheit gegenüber unseren Multikulti-Nachbarn herbeiführen. Es gibt Orte, da kann mensch eine Stunde Bahn hin fahren, da sprechen alle nur Thailändisch, echte Mönche in braunen Tüchern wohnen dort, und wir kochen Gemüse, das haste noch nie gesehen (und es schmeckt so bitter, kein Wunder, es heißt Bittergurke). Es gibt Orte, da führen Menschen Theaterstücke auf ungarisch auf. Es gibt ominöse religiöse Stätten, deren Architektur surreal anmutet, es gibt Straßenfeste und Supermärkte, in denen mensch unterhalten wird wie in einer Ausstellung im Naturkundemuseum („uuuhrg, was ist das?“). Ich weiß nicht genau, vielleicht ist es aus irgendeinem Grund einfacher, in die Ferne zu reisen, dort anonym zu sein und sich alles einfach nicht-teilnehmend anzugucken, unverbindlich, statt sich vor Ort umzusehen. Erscheint mir jedenfalls so.

Es gibt mehr und mehr Artikel, die sich mit den Vorteilen langsamen Reisens beschäftigen. Weil ich tatsächlich beschlossen habe, nicht mehr zu fliegen, hoffe ich sehr, dass es mir auf andere Arten möglich sein wird, zu Reisen, wenn ich es möchte. Fahrradreisen kann ich sehr empfehlen – jedes Nachbarland Deutschlands lässt sich ohne großen Aufwand erreichen – und Trampen ist auch klasse, ich würde es mangels Menschenkenntnis nur nicht alleine tun. Persönlicher Favorit ist auch der Nachtzug, mit dem mensch seit kurzem wieder von Berlin nach Budapest fahren kann (yey!). Ich möchte mir für meine Reisen auf jeden Fall Zeit nehmen – allein schon, weil mich sonst die vielen Eindrücke komplett erschlagen. Mir geht es besser, wenn sich Landschaft und Kultur um mich herum in einer Schnelligkeit ändern, dass ich es noch verarbeiten kann.

Hier ein Comic zum Titelthema (von meinem aktuellen Lieblings-Comiczeichner):

wings

Quelle: https://xkcd.com/620/

1 Le Quéré, C., Capstick, S., Corner, A., Cutting, D., Johnson, M., Minns, A., … & Wood, R. (2015). Towards a culture of low-carbon research for the 21 st Century. Tyndall Centre for Climate Change Research Working Paper 161, 35.

2 http://www.airportwatch.org.uk/2018/11/the-concept-of-flying-shame-is-growing-in-sweden-shame-if-you-fly-too-much-due-to-the-co2-emissions/ [access: 28.01.2018]