Julai saß auf dem Stuhl und starrte an Dr. Winter vorbei auf die Vorhänge. Ein Teil von ihr versuchte, das Muster auf den Vorhängen von ihrem natürlichen Chaos in eine geordnete Struktur überzuführen. Geistig. Es waren Strichzeichnungen stilisierter Äste mit Blättern daran; die Astdicke war durchaus biologisch unsinnig und ebenso die Blattaderung. Der Stoff des Vorhangs bildete Wülste und Furchen; am Gehirn würde man das Gyri und Sulci nennen. Nur dass der Vorhang keine Gene besaß, die seine Wülste und Furchen an Ort und Stelle beließen.
Ihr Kopf war wie leergefegt und gleichzeitig viel zu voll mit Krams wie diesem, die reinste Rumpelkammer. Aber eine Geschichte? Brauchen Sie noch etwas Zeit, fragte Dr. Winter. Nein, ich mache das schon, sagte Julai. Geschichten kannte sie zur Genüge. Wenn nur die Angst nicht wäre, die da hieß, was denkt die Frau mir gegenüber von mir, was, wenn sie schlecht über mich urteilt. Aber Julais Reaktanz sagte: egal! Feierlichstens egal. Wenn es doch so einfach wäre, dem „egal“ zu glauben. Sie begann.
„Die Geschichte spielt in einem Paralleluniversum. Da gibt es ein Raumschiff. Die Physiker in diesem Universum haben die Quantentheorie weiterentwickelt und die Stringtheorie, und die Quantentheorie der Gravitation, und damit sind die Physiker glücklich, und sie haben immer noch genug zu tun. Dunkle Materie, die in diesem Universum einen anderen Namen hat, bewegt das Raumschiff. Und nun werfen wir einen Blick in das Innere.
Jedes Raumschiff hat eine Kapitänin oder einen Kapitän, wie bei Star Trek. Hier ist es eine Kapitänin, aber sie kann gerade nicht arbeiten. Sie ist aber so gut, und die Gruppe auf dem Raumschiff ist so kohäsiv, darum kümmern sich alle sehr liebevoll um sie. Wenn es ein Meeting gibt, schieben sie ihren Rollstuhl mit in die Runde. Sie hört dann mit geschlossenen Augen zu.“
Julai pausierte. Sie hatte gar keine Ahnung, wie es weitergehen sollte oder wie überhaupt Geschichten sinnig erzählt werden. Sie erinnerte sich, dass in den meisten Geschichten irgendein Problem oder Konflikt oder eine Aufgabe von den Figuren zu bearbeiten war. Na, ein Problem oder eine Aufgabe, das konnte nicht so schwer sein. Julai fuhr fort.
„Eines Tages erreichte das Raumschiff einen Planeten, auf dem sich Leben befand. Menschen hatten ihn einst von einem anderen Raumschiff aus besiedelt. Die Evolution ist ein Naturgesetz, und auch dieser Planet funktionierte nach diesem Prinzip.“
Julai fiel an dieser Stelle ein, dass fiktionale Geschichten nicht immer wissenschaftlich logisch sein mussten. Cool, dachte sie, und sprach weiter.
„Aber die Evolution war ein Gesetz, das in der fünften aufgerollten Dimension codiert war, und manchmal gab es Mutationen in diesen Dimensionen, während sie in die Realität übersetzt wurden.“
Julai fürchtete an dieser Stelle, dass sie zu weit ging mit dem Missbrauch der Naturgesetze, aber die konnten ja nicht böse auf sie werden.
„Und weil es in der einzigartigen Raumzeitkrümmung des Planeten zu diesem Phänomen kam, war die Evolution eine andere. Und das hatte eine große Wirkung auf die Menschen, die diesen Planeten besiedelt hatten. Die Gruppe auf dem eingangs erwähnten Raumschiff versuchte, vom Weltraum aus Kontakt zu den Menschen aufzunehmen. Und es gelang. Sie bekamen sogar eine sehr freundliche Einladung zu einem Spaziergang im Garten, den ein sechsundvierzigjähriger Bewohner ihnen anbot. Die Planetenbewohner, die sich der Einfachheit halber R nannten, wie die Programmiersprache, drückten sich erstaunlich präzise aus. Sie meinten auch, im Laufe des Gesprächs, dass ihnen ihre präzise Ausdrucksweise im interplanetaren Vergleich ebenfalls aufgefallen war und dass es sich um eine Art psychokompatible kontextfreie Grammatik handle. Das fand einer der Ingenieure so toll, dass er unbedingt mit hinunter gebeamt werden wollte. Sie fragten auch die Kapitänin. Und sie sagte, ja. Sie litt nämlich sehr unter ihrer Krankheit, die unheilbar war, und daher fanden es ihre Kolleg*innen nur angemessen, wenn sie in der Natur und schönen Atmosphäre eines anderen Planeten Freude empfand. So wurden also insgesamt drei Leute hinuntergebeamt in den Garten.“
Julai hatte sich noch immer keinen Konflikt, Aufgabe oder Problem ausgedacht. Mist, so langsam ist es aber auch genug mit dieser Geschichte, fand sie. Und überhaupt, Dr. Winter zuliebe muss ich mir doch keinen überragenden Verlauf ausdenken. Ja, nee. Stimmt schon. Hat auch seine Grenzen. Aber wenn sie schon die Naturgesetze ausgehebelt hatte, konnte sie auch die Regeln des Geschichtenerzählens aufheben. Regeln aufheben war Julais größtes Hobby.
„Der Bewohner namens Sonnenblume nahm zur Begrüßung ihre Hände und streichelte sie. Er hatte ein sonnenbraunes Gesicht und graue Augen und lächelte sie an. Er war barfuß, hatte eine Hose an, die wie ein Strickpulli aussah, und trug ein gelbes Tuch auf dem Kopf. Er hatte ein Gerät dabei, das seine Sprache übersetzte, doch die Leute aus dem Raumschiff brauchten dann doch ziemlich lange, um sich an die fremde Syntax zu gewöhnen. Es war schräg. Sonnenblume meinte, er macht einen unverbindlichen Vorschlag, zu dem er laut subjektivem Output seines nucleus accumbens 0.4 Einheiten Lust hat, nämlich, dass sie sich abwechselnd Fragen stellen, und zwar egal, welche.
Die Crewmitglieder besprachen sich, und insgeheim waren sie von der Abschaffung des Smalltalks erstaunt und fragten sich, ob alle anderen Planetenbewohner auch so waren. Sie stimmten zu. Die Kapitänin durfte dann die erste Frage stellen, die sie auf Tasten ihres Pads eingab, weil sie nicht sprechen mochte. Sie schrieb: Woran denkst du, bevor du schlafen gehst?
Sonnenblume lächelte erneut und sagte dann, er habe in den meisten Nächten Lust, an einen bestimmten fiktiven Ort zu denken, und dort an eine Bibliothekarin. Er stellte sich ausgiebig und mit hoher visuell-haptischer Dichte ihre Arbeit in der Bibliothek vor. Die Bücher riechen nach altem Papier, und die Regale aus Holz riechen nach altem Holz. Die Bibliothekarin ist immer jung und schön, wenn er an sie denkt, und er malt sich aus, was in all diesen Büchern steht. Er geht die Regale lang und füllt die Bücher mit imaginärem Inhalt. Schritt für Schritt. So hat er inzwischen tatsächlich eine ganze Bibliothek im Kopf. Und wenn er einen seiner Gedanken nachlesen will, muss er nur an die bestimmte Stelle in der Bibliothek gehen und das Buch herausnehmen, in dem er den Gedanken abgelegt hat. Wie in einem Computer die Ordner, so ist sein Kopf. Das mag euch andere vielleicht erstaunen, sagte Sonnenblume, aber wir sind durch unsere Erfindungen in kognitiver Genetik tatsächlich zu solchen Dingen fähig. So endete Sonnenblumes Antwort und sie ließ die drei Gäste sprachlos. Kognitive Genetik, alter. Aber nun war Sonnenblume selbst mit einer Frage dran.“
Julai versank erneut in dem Anblick des Vorhangs, während sie sich diese Frage ausdenken wollte, aber nun meldete sich Dr. Winter zu Wort.
„Ich denke, das reicht, danke.“
Julai atmete auf. Sie hatte keine Ahnung gehabt, wie lang ihre Geschichte hatte sein sollen. Ein Glück war dieser Teil der Testung vorbei. Aber nun fragte sie sich wiederum, was Dr. Winter nun über sie dachte. Julai hatte noch immer ein wenig Respekt vor den Fähigkeiten von Psycholog*innen, aber im Grunde konnten sie auch nichts Magisches bewerkstelligen und schon gar nicht so gut andere Leute durchschauen, wie das allgemeine Stereotyp annahm. Jedenfalls konnte Julai weder in den Kopf von Dr. Winter, noch in die Köpfe überhaupt irgendwelcher anderer Menschen hineinschauen. Sie nahm an, dass andere diese Fähigkeit eher besaßen und würde zu gerne einmal erleben, wie es sein musste, das zu können. Das musste sooo fancy sein!
Als Julai das Sprechzimmer verließ, stand am Kaffeeautomaten schon wieder dieser hinreißende junge Mann. Er hatte einen weißen Kittel an, was Julai nicht verstand, wozu braucht ein Psychiater einen weißen Kittel, psychische Störungen machten doch keinen dreckig. Dass der junge Mann ein Mitarbeiter eines Psychiaters war oder sowas in der Art, das hatte sie im Internet recherchiert, weil er ein Namensschild trug und so hübsch war. „Hübsch“ war, wie Julai erfahren hatte, kein Wort, mit dem Männer allgemein beschrieben wurden, aber es war ein netteres Wort als „ästhetisch“, oder?
Der Mann lächelte sie an. Julai ging zu ihm und sagte, hi. Sie hätte gerade eine Testung bei Dr. Winter hinter sich und wäre voll platt davon. Dieser Test, bei dem mensch eine Geschichte erzählen muss, genau. Und der Typ, der keinen Kaffee im Pappbecher, sondern schwarzen Tee im Mehrwegbecher in der Hand hielt, was Julai irgendwie sympathisch fand, fragte sie, und, wie war das so mit der Geschichte? Ist dir was Gutes eingefallen? Die nächste Viertelstunde unterhielten sie sich über kognitive Genetik und dann sagte er, er müsse zurück zur Arbeit. Wie außerordentlich schade sie das fand! Ob sie ihn näher kennenlernen durfte, so privat? Oder war das gegen die Regeln? Sie fragte ihn direkt. Ob sie ihn so privat auch kennenlernen dürfe, oder ob das gegen die Regeln sei. Ungeschriebene Regeln, wohlgemerkt, außer, jemand hatte sie aufgeschrieben. Und er fragte sie, warum sie eigentlich hier gewesen sei, und sie sagte es ihm, da überlegte er und sagte, wenn das so ist, ist es wohl nicht gegen die Regeln. Da tauschten sie Email-Adressen aus. Draußen tobte der Regen. Der Klimawandel war in vollem Gang.
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