Diesen Text schrieb ich während meines Freiwilligen Ökologischen Jahres (FÖJ) beim Prinzessinnengarten, einem Gemeinschaftsgarten in Berlin. Dieser hat übrigens vor kurzem neue Wurzeln auf einem Neuköllner Friedhof geschlagen. Die Urban-Gardening-Saison geht wieder los; ich freu mich darauf, ich hab noch eine Menge Saatgut zum säen, und in der Hoffnung, dass die Gartenfreude ansteckt, teile ich mal diesen wiedergefundenen Essay.
Als ich an meinem ersten Tag im Prinzessinnengarten meine Hände in den Kürbiskernen versenkte, ahnte ich noch nichts von meiner späteren Begeisterung für Saatgut.
Die Kürbiskerne, in Wasser eingeweicht, waren schleimig, schlüpfrig und flutschten herrlich durch die Finger. Allein dieses Gefühls wegen tauchte ich meine Hände immer wieder in den Eimer.
In der Gartenküche hatte es an diesem Tag gebackenen Hokkaido gegeben. Man sieht den Gerichten an, dass sie mit Begeisterung und Experimentierfreude gemacht werden. Ich glaube, kaum ein FÖJler kriegt auf der Einsatzstelle so tolles Essen!
Manchmal bekommen wir Saatgut geschenkt. Ganz international, aus Indonesien, Japan, Spanien…
Ein Italiener ist sehr angetan vom Garten und hat uns Bohnen geschenkt. Woher sie wohl kommen? Wir haben ihn in seinem Dorf in Norditalien besucht. Er redet mit älteren Menschen über die Landwirtschaft, damit ihr Wissen nicht verloren geht. Fast alle Alten des Dorfes haben sich früher mit Landwirtschaft beschäftigt. Sie können zahlreiche Bohnensorten aufzählen – wie viele Menschen kennen diese wohl noch? Vermutlich sind es Sorten, die schon seit Generationen in dieser Region angebaut werden – jede Familie hat den Züchtungsprozess ein wenig weiter geführt…
So entstehen Sorten ja, jede Saatguternte ist eine Auslese und ein züchterischer Prozess. Mensch erntet die Samen der kräftigsten, am schönsten blühenden, am reichsten fruchtenden Pflanze. Oder die Samen der am frühesten reifenden, der am besten lagerfähigen… und nach und nach verwachsen Sorte und Region miteinander. Jedes Samenkorn trägt schon Informationen über seinen Standort in sich. Sie sind so individuell, obwohl sie einer Art angehören. Es ist verrückt!
Die Natur ist so wundervoll komplex. Tausende Arten produzieren abertausende Samen, die sich in alle Winde verstreuen…
Generationen folgen aufeinander, jede ist anders, jede muss anderes leisten… das Klima verändert sich, neue Insekten treten auf die Bühne… Und dann kommen Menschen, sie tauschen Saatgut und nehmen es mit in ihren Taschen, tragen es tagelang durch die Welt.
Manchmal, wenn ich ein paar Münzen in der Hand habe, frage ich mich plötzlich unwillkürlich, wo sie schon überall waren. Auf der Münze ist eine Zahl eingeprägt, „2002“. Seitdem, seit so vielen Jahren, ist sie schon im Umlauf! Durch wie viele Hände ist sie schon gegangen? Gegen welche Güter wurde sie schon eingetauscht? Haben die Waren, gegen sie getauscht wurde, jemanden glücklich gemacht? Wer hatte sie schon in der Hosentasche? Wer hat sie unter dem Regal gefunden?
Dasselbe frage ich mich auch, wenn ich hier im Garten das Saatgut ernte. Wo kommt es her und – wo wird es landen?
Ich weiß nicht, woher die Rote Melde kommt, deren Saatgut ich letztes Jahr im Herbst geerntet habe. Ich weiß aber, dass sie bei den Besuchern des Gartens auf Interesse stößt. Ein bisschen selbstgeerntetes Saatgut habe ich in kleine Gläschen gefüllt, gegen eine Spende am Verkaufscontainer kann man sie sich mitnehmen. Wie gesagt, in jedem Samenkorn steckt ein Stück Bäckerkistenhochbeet vom Moritzplatz, und „handgepult von Generationen von Praktikanten“, der Gedanke hat auch was – einfach die Verbundenheit der Dinge.
Ich stelle mir vor, wie die Rote Melde auf Balkonen in Marzahn, Amerika, Bad Kreuznach oder sonstwo vor sich hin wächst. Vielleicht basteln auch Schulkinder Samenbomben daraus. Oder die erfahrene Schrebergärtnerin sät sie in einem Topf aus, um kritisch die ihr unbekannte Pflanze zu beobachten – das Saatgut, was ich FÖJlerin geerntet habe. Ich finde das verrückt.
Rote Melde ist eine meiner Lieblingspflanzen hier. Melde, wie man sie so kennt ist eigentlich grün und unscheinbar, sie wächst häufig auf Äckern und ist deshalb für die meisten Gärtner ein Unkraut. Witzigerweise hat man sie früher sogar in größerem Stil als Gemüse angebaut und wie Spinat gegessen, bevor sich der Spinat in Europa etabliert hat. Sie ist proteinreich, wenn man im Wald verloren ist lohnt es sich angeblich, nach ihr (oder anderen Gänsefußgewächsen) Ausschau zu halten. Die Melde mit den leuchtend roten Blättern ist eine spezielle Züchtung, sie schmeckt lecker nach Spinat und sieht wunderschön aus.
Ich finde, Melde weitet den Blick und lässt die starre Grenze zwischen Unkraut und Gemüse aufweichen. Sie lässt erkennen, wie viele Nahrungsmittel ein Mensch verpassen kann, der sich nur an das Supermarktangebot hält. Ich stelle mir manchmal vor, wie jemand (in Marzahn, Amerika, Bad Kreuznach oder sonstwo) eine*n Besucher*in hereinbittet, der Blick fällt auf die Rote Melde im Balkonkasten, das Wissen wird geteilt, ein Blatt wird probiert… Das ist ein Moment, in welchem sich das Verständnis von Gemüse erweitert und ich staune sehr, wie einfach das geht mit der „Bewusstseinserweiterung“.
Die Bohnen aus Italien, die schon Generationen menschlicher Pflege genossen haben, dürfen nun in Großstadtluft wachsen (solange sie nicht als Schneckenmenü enden). Im Herbst ist dann Saatgut-Pulen angesagt. Das Herauslösen der Bohnen-„Samen“ macht mit Abstand am meisten Spaß. Die knochentrockene Hülse lässt sich leicht aufbrechen, die prallen, glänzenden Bohnen kullern heraus. Wie schön sie sich anfühlen! Bohnen sind einfach toll: Jede Sorte ist unterschiedlich groß, manche sind nierenförmig, manche Rund, manche flach – und diese Farben sind genial! Tiefschwarz und elfenbeinweiß, mit Kuhflecken oder rosa mit grünen Punkten. Die Sorten, die nicht mehr bestimmbar sind, weil die Beschriftung verlorengegangen ist, nennen wir „Bohne Surprise“.
Erst nach einiger Zeit hier habe ich die Bedeutung des Saatgutes vollständig begriffen. Saatgut lebt tatsächlich, es hat einen minimalen Stoffwechsel, allein das ist kaum zu glauben. Es kann in diesem Zustand Jahrtausende überdauern (tatsächlich hat man schon Saatgut einer Dattel zum Keimen gebracht, das etwa zweitausend Jahre alt war).
Saatgut macht außerdem unabhängig. Theoretisch muss ich mir nicht ständig die Tomaten auf dem Markt kaufen. Es reicht, wenn ich das einmal tue und mir kurz durch den Kopf gehen lasse, was ich mir gerade gekauft habe: Nicht nur die essbare Frucht, sondern auch die Samen darin, aus denen quasi unendlich viele Tomatenpflanzen entstehen können! Samen, die Tomaten gebären, in denen wiederum Samen reifen, die wieder Tomaten entstehen lassen und so weiter… Wenn man sich das überlegt, ist die essbare Frucht um die Samen herum irgendwie bedeutungslos.
Schade, dass dieser Unabhängigkeits-Gedanke immer weiter verlorengeht, aufgrund von Hybrid-Saatgut mit eingebautem Bio-Patent. Hier kann mensch sich nicht mehr auf die Saatguternte freuen, denn die besonderen Eigenschaften der Hybridpflanzen (ein höherer Ertrag, stark wüchsige Pflanzen) treten nur in der ersten Generation auf. Es muss immer neu gekauft werden und von dem Gedanken, dass jede*r Gärtner*in auch zum Züchter*in wird, ist nicht mehr viel übrig.
Die Sonne scheint draußen so schön und ich weiß schon wieder nicht, wie ich damit umgehen soll, Gentechnik und der Verlust der Sortenvielfalt, große Konzerne, die den Saatgutmarkt dominieren…
Dabei brauche ich mich bei diesem Thema gar nicht ohnmächtig zu fühlen, denn ich leiste schon meinen Beitrag mit jeder Saatguternte im Prinzessinnengarten und merke gar nicht, wie viel Bedeutung man in das alles hineininterpretieren kann. Das eigene Handeln hat durchaus einen Einfluss darauf, wie die Dinge sich entwickeln, in jedem Moment kann ich neu entscheiden, ich bin frei zu entscheiden, welche Umwelt ich unterstützen will… Die Zukunft (die mensch sich wünscht) beginnt in jedem bewussten Moment des Handelns, das klingt etwas hochtrabend-philosophisch, aber eigentlich kennt jeder Mensch dieses Gefühl.
Dieses Gefühl, das so oft fehlt, weil es von Resignation und der komplexen, unverständlichen Welt überschattet wird… Wenn ich für Greenpeace Unterschriften sammle und entgegnet bekomme, „Das nützt ja doch nichts“…
Das Saatgut gibt es mir, „das Gefühl“, und ich bin irgendwie so süchtig danach, dass ich nur noch handeln will, handeln, handeln…
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