Manchmal fühle ich mich etwas fremd hier. Meine Umgebung ändert sich rasant. Komme ich damit klar? Manchmal. Gestern hatte ich zum ersten Mal eine VR-Brille auf. Es wird gerade eine Studie zur Wahrnehmung mit eingeschränktem Gesichtsfeld (wie es bei manchen Menschen mit Augenerkrankungen auftritt, vorstellbar als Tunnelblick) durchgeführt. Die Forscher*innen wollen wissen, ob Menschen mit eingeschränktem Gesichtsfeld bei der visuellen Suche genau so implizit lernen, wo sie suchen sollen, wie nicht eingeschränkte Menschen. Ich hatte also diese Brille auf, und bevor der Versuch losging, stand ich in einer virtuellen Ebene mit einem virtuellen Horizont, über dem so viele virtuelle Sterne standen, wie sie in meiner Stadt wegen Lichtverschmutzung nie sichtbar wären. Ein virtueller Sonnenaufgang war an einer Seite sichtbar. Irgendwie war das schön. Ich fühlte mich entkörpert, da ich meinen Körper nicht sah, und vergaß völlig, dass ich mich in einem dunklen Laborraum im Keller befand. Mein Impuls wäre gewesen, loszulaufen und die Ebene zu erkunden, aber dann wäre ich in gewisse Wände gelaufen. Anschließend durfte ich mit simuliertem Tunnelblick ziemlich lange „T“s zwischen „L“s suchen, wie das so ist, aber ich mache das gerne, es gibt deutlich sinnlosere Wissenschaft.

Erlebnisse wie diese, aber auch allein schon eine neue Karteikarten-App und die damit verbundenen Möglichkeiten lassen mich empfinden, als sei ich unfreiwillig Protagonistin eines Science-Fiction-Romans geworden. Ich weiß, ich bin sensibel, trotzdem glaube ich, Veränderung geht den meisten schon irgendwie nah. Menschen sind schon seltsam: Einerseits fällt ihnen Veränderung schwer, andererseits äußern sie häufig, sie würden gerne alles verändert haben. Das ist in unterschiedlichen politischen Gruppierungen so, aber insbesondere auch bei den Umweltschützenden. Der Wandel, oft ist die Rede vom Wandel. System change not climate change. Change the system! Ich gehe mit, ich will das auch! Aber für mich wäre die Veränderung in die von vielen anvisierte Postwachstumsgesellschaft vermutlich weniger ein Problem. Warum? Weil ich gewisse Dinge schon gewohnt bin. Von Klimacamps, wilden Hausprojekten, Gemeinschaftsgärten und IPU-Kongressen. Für andere wäre das kaum vorstellbar.

Das bringt mich häufig zum Nachdenken. Insbesondere, wenn Leute die Revolution wollen. Wie sollen Menschen von heute auf morgen nach anderen Prinzipien leben, anderen Gewohnheiten nachgehen, die das noch nie in Erwägung gezogen haben? Das finde ich unrealistisch (vermutlich bin ich nicht die erste mit diesem Gedankengang). Es braucht Spielräume, Ausprobierräume. Heißt das nicht auch Reallabor? Das kann sein. Auf dem Klimacamp nannte mensch es Nowtopia.

Das einzige Wachstum, das unendlich sein kann auf einem endlichen Planeten, ist das Persönlichkeitswachstum (ich fühle mich sehr fancy philosophisch mit diesem Geistesblitz eines Aphorismus). Ist Wissen auch unendlich? Ich weiß nicht. Unser Gehirn hat, wenn mensch es umrechnet, etwa 1000 Terabyte Speicherkapazität. Wow! Noch kommt die KI da nicht ran, oder? Weiß ich nicht. Wäre das Teil meiner persönlichen Utopie? Muss nicht sein. Oft tendiere ich eher zu low-tech. Denn Technologie braucht immer Ressourcen, Digitalisierung übrigens auch, und zwar eine Menge. Gerade Videostreaming benötigt eine riesige Menge Strom (ironischerweise gibt es zu dem Thema ein sehr gutes Video im Internet). Und ich denke, wir können auch ohne VR-Brillen ganz glücklich sein. Allerdings bin ich auch extrem neugierig und probiere neue Technik gerne mal aus, und ein bisschen Programmieren oder Linux erkunden macht mir auch Spaß. Wie auch immer, um im Chaos meines Erzählstranges den Ursprung der ganzen Gedanken deutlich zu machen, ich war auf dem Klimacamp in Pödelwitz, jetzt vor ein paar Wochen, und es war inspirierend. So in etwa, aber mit (langfristig) weniger Klos putzen und mehr Privatsphäre, stelle ich mir meine persönliche Utopie vor. Ich war schon auf ungefähr fünf Klimacamps, aber jedes Mal bin ich auf Neue inspiriert. Manche sagen, es sei wie ein kleines Festival, weiß ich nicht genau, weil ich nicht auf Festivals gehe, aber ich denke, ein paar Unterschiede gibt es schon. Klimacamps dienen einem idealistischen Zweck – dem Klimaschutz bzw. der Klimagerechtigkeit. Es gibt ein gut organisiertes Awareness-Konzept. Awareness bedeutet sowas wie den achtsamen Umgang mit einander. Das Klimacamp hat ein ausformuliertes Awareness-Konzept mit einigen Verhaltensregeln, damit sich möglichst alle wohlfühlen. Zum Beispiel nehmen Leute auf Klimacamps fast keine Drogen, sind nicht betrunken oder sonstwie substanzinduziert bewusstseinsverändert. Das finde ich sehr angenehm – Menschen behalten einen klaren Kopf. Muss auch sein, denn es gibt tolle Workshops, die das Denken fordern. Auch bezüglich Gender ist das Klimacamp eine aus meiner Sicht wunderbare Utopie. Ich habe noch nie so viele männlich gelesene Menschen (d.h. ich weiß nicht ob es Männer sind, weil ich sie nicht gefragt habe, aber sie sehen so aus) mit Röcken gesehen. Sind ja auch angenehm luftig, warum nicht? Auch die Frage, wer oberkörperfrei herumlaufen darf, wurde elegant gelöst. Erst erschien es mir merkwürdig, dass um diese Frage so ein Gewese gemacht wird, aber irgendwann verstand ich schon die Relevanz. Denn es ist ja im Grunde schon unlogisch, dass manche Oberkörper nackt sein dürfen und andere nicht, wenn der binäre Charakter der Geschlechtsidentität generell infrage gestellt wird. Deshalb liefen an einem besonders warmen Tag auch einige männlich gelesene Menschen mit Bikinioberteilen herum. Irgendwie fand ich das total nett von ihnen und auch ein wenig amüsant, aber vor allem nett. Ist halt auch ein bisschen eine andere Welt – eben eine Utopie im jetzt – aber ich hoffe, dass Außenstehende nachvollziehen können, was ich in dieser Mini-Ausprobier-Gesellschaft so toll finde.

Generell fiel mir die Prosozialität der Menschen dort auf, aber auch, dass ich ein ganz anderes Gefühl von Sicherheit haben konnte, als in der Stadt. Es gab zum Beispiel ein Fahrrad-Verleih-System, was denkbar einfach funktionierte: Ich knotete ein rotes Band an mein Fahrrad und ließ es unangeschlossen auf dem Gelände stehen. Andere Menschen ohne Fahrrad konnten es sich ausleihen und am selben Tag zur selben Stelle zurückbringen. Ich hänge ziemlich an meinem Fahrrad und war erst etwas skeptisch, aber tat es dann doch. Siehe da – das Fahrrad verschwand und kam tatsächlich wieder zurück! Das war ein ziemliches Aha-Erlebnis. Auch bei anderen Dingen – Wertsachen oder volle Spendendosen im Zelt, beispielsweise – machte ich mir irgendwann kaum mehr Sorgen. Das ist schon ziemlich merkwürdig. Wann sollte ich vertrauen, wann misstrauen? Ich kann es oft nicht richtig einschätzen.

Ich war auch bei einem Kurs der Degrowth Summer School. Der war ganz klasse. Es ging vor allem darum, wie mensch als Vertreter der Degrowth-Idee mit Kritik und Gegenargumenten umgeht. Der Kursleiter erklärte uns die Kategorien von Argumenten und wie mensch Ideen und Theorien auf ihre Qualität überprüft. Sokratische Gesprächsführung, um Theorien und Ideen zu prüfen, sowie eine praktische Übung im Diskutieren kamen auch dran. Postwachstum ist schon toll, oft weiß ich nicht genau, wie ich mich dafür einsetzen kann. Lokalwährung? Politik? Wirtschaft? Hmm. Aber witzigerweise sieht es, wenn es als ideologische Basis in den eigenen Lebensstil integriert wird, gar nicht so speziell aus. Dinge länger nutzen, Dinge teilen (Stichwort Commons), Dinge selber machen, Energie sparen, sich für Gerechtigkeit und Demokratie einsetzen, sich selbst okay finden und auch mal länger Fahrrad und Zug fahren statt Flugzeug – das sind alles Implementierungen von Postwachstumsökonomie, nur ohne dass diese Verhaltensweisen was mit der abstrakten akademischen Seite von Degrowth/Postwachstum zu tun haben. Sieht eher aus wie eine Orientierung an altruistischen und biosphärischen Werten. Aber für Degrowth Argumentieren lernen (mit BWL-Studis? Huuh) will ich trotzdem.

In Pödelwitz gibt es auch einen Gemeinschaftsgarten und Leute, die dort wohnen – sie nennen sich AAA, Aufstand am Abgrund (es gibt auch eine Pharmafirma, die so heißt, das kriege ich nicht aus dem Kopf). Ich war am morgen da zwecks Dorferkundung, und ein Bewohnendes war da und gab mir grünen Tee. „Bewohnendes“, weil weder männlich noch weiblich. Ich weiß da noch nicht so genau, wie das in diesen Fällen mit der Grammatik läuft, das hat sich sicherlich schon jemand ausgedacht. Wie auch immer, ich fand es sehr nett. Ich glaube, ich habe das Richtige getan, um eine Vorstellung vom „Wandel“ zu bekommen inklusive einem boost an kollektiver Selbstwirksamkeit. Genau da sind übrigens mal wieder Psycholog*innen der Uni Leipzig am erforschen – wie sich Klimacamps so auf die teilnehmenden Menschen auswirken. Bin gespannt auf die Ergebnisse.