[Einleitung] Oxytocin macht das Leben schöner. Ich lebe ein Jahr schon hier in dieser von der Elbe durchflossenen Gegend. An wenigen Orten entdeckte ich größeren Seelenfrieden als in dieser einst abstrus zerstörten Stadt. Fast nirgends eine größere Neugier als in dem Modul Biopsychologie. Nirgends eine größere Unendlichkeit als in den Weiten der Publikationen und Datenbanken. Alles fügt sich, wie die Zahnräder meiner Armbanduhr, die zwar nicht richtig läuft, aber vielleicht hat die Uhr recht und es gibt keine Zeit. Zumindest die KI, mit der ich letztens sprach, sagte das, aber die sagt viel dummes Zeug. Wer redet schon mit Robotern, um nützliche Dinge zu hören?
[Jetzt!] Vielleicht kann mensch sich in Länder und Städte verlieben. Oder Reisen macht einfach Spaß, weil ich mich nicht dermaßen zur Produktivität zwinge. Wie dem auch sei, Litauen gefällt mir enorm, und in Vilnius fühlte ich mich wohl. Auf dem Land gibt es entzückende Holzhäuser. Der Winter ist kalt und in den Holzhäusern gibt es keinen Wasseranschluss. Die Holzhäuser sind daher nicht unedingt komfortabel, aber sehr hübsch anzusehen von außen. In Vilnius gibt es einen Stadtteil, in dem nur solche Holzhäuser stehen. Die Wege dazwischen sind sandig. Es erinnert an eine Kleingartenanlage in Deutschland, aber nein, es sind echte Häuser. Dahinter ragen Wolkenkratzer auf von Banken und so. Das Bild ist bizarr – ein Riesenkontrast. Das wird mir nicht aus dem Kopf gehen.
Ich habe beschlossen, nicht mehr zu fliegen – der Beschluss ist schon eine Weile her, geflogen bin ich seit, moment mal, sechs Jahren nicht. Wir sind von Berlin aus gereist. Mit dem Zug nach Warschau, dann in Warschau herumgucken, ein Hostel suchen, übernachten. Am nächsten Tag fuhren wir mit einem sehr fancy Fernbus nach Vilnius. So war die Reise gut aufgeteilt und recht entspannt. Diesen Fernbus fand ich schon ganz cool, ich dachte, ogott acht Stunden Busfahrt – aber die Sitze waren bequem und ich hatte Zeit, für meine Prüfungen zu lernen. Warschau hat aber auch hübsche Ecken. Überhaupt, weil ich ca. 10 Wörter polnisch kann und schon öfter dort war, fühle ich mich in Polen schon etwas zu Hause. „Zu Hause“-Gefühle sind sehr kontextabhängig, wie der Großteil der menschlichen Wahrnehmung, das scheint so fundamental zu sein, und doch wissen es manche vielleicht nicht…
In Warschau kann mensch auch geniale vegane Burger essen, das war toll. Danach zu suchen lohnt sich. Es sind so viele junge Leute dort gewesen, am Flussufer, ich dachte, was geht hier ab. Und auch so viele fancy Cafés. Alles sehr fancy… ich weiß, dass ich das Wort zu oft benutze! Aber weißt du ein besseres? Haha, wie wäre es mit „pittoresk“. Nein, das ist eher Vilnius. Es macht so dermaßen viel aus, ob eine Stadt zerstört wurde oder nicht. In Vilnius stehen noch so viele Kirchen – ich habe mir die Zahl nicht gemerkt, absurd viele. Eine schöner als die andere. Als wir ankamen, war ich erstaunt, es sah gar nicht so urban aus. Das lag daran, dass die Häuser vergleichsweise flach sind. So viele Altbauten. Auch in der Stadt drin, eine labyrinthische Altstadt, ich fand es wirklich ästhetisch alles, und das erfüllt mich sehr. Was uns noch auffiel war, dass es irre voll war, und ich entdeckte schon nach kurzer Zeit, dass Leute Litauen-Flaggen in den Händen hielten oder die Fahnen um den Körper geschlungen hatten. Ich dachte an ein Fußballspiel, aber da wirklich enorm viele Leute unterwegs waren, fragte ich mich, ob wir aus versehen am Nationalfeiertag gekommen waren, ohne es zu wissen. Das wäre schon irgendwie peinlich. Aber irgendwie war es so. Wir checkten erst in ein Hostel ein, dann liefen wir draußen umher. Irgendwann war ich so neugierig, dass ich kurz recherchierte, was denn an diesem Datum so besonders war. Es stellte sich heraus, dass die Litauer ein Jubiläum feierten, 30 Jahre Baltic Way. Wir fanden irgendwann zum Parlament, vor dem eine Bühne aufgebaut war, und bekamen die letzten zehn Minuten eines Dokumentarfilmes mit. Ich konnte es kaum fassen: 1989 haben sich die Leute über das ganze Baltikum zu einer 600km langen Menschenkette formiert. Es waren über eine Million Menschen dabei (nicht mal halb so viele habe ich je bei einer Großdemo in Berlin gesehen, und ich war schon auf einigen Demos!). Die längste Menschenkette, die es jemals gab. Schon krass, und ich hatte nie etwas davon gehört. Aber das erklärte die Stimmung. Die ganze Altstadt war voller Leben, die Menschen drängten sich draußen, es war sommerlich warm und friedlich. In den Cafés, Restaurants war enorm viel los, obwohl es schon ziemlich spät war. Man sagt ja, der erste Eindruck zählt, vielleicht trägt das auch zu meiner positiven Einstellung Litauen gegenüber bei.
Am nächsten Tag liehen wir uns Fahrräder aus. Es gibt einen Fahrradladen (velovilnius.lt), der Betreiber kommt aus Deutschland, was die Kommunikation recht simpel machte. Er führte uns und noch zwei andere Menschen durch die Stadt, mit Fahrrad geht das ganz gut, da bekamen wir viel zu sehen, auch entlegenere Stadtteile. Ich muss schon sagen, in Deutschland bin ich bessere Fahrradwege gewöhnt, aber es funktioniert dort auch. Die Autofahrer*innen sind recht rücksichtsvoll und nehmen Zebrastreifen ziemlich ernst. Ein paar weniger Bordsteinkanten hätte ich mir auch gewünscht, aber die Federung des Fahrrades war zum Glück superb. Also, ja, passt schon. Er führte uns zu den Holzhäusern (den Stadtteil nannte er „Shanghai“, ich vermute, wegen der krassen Kontraste, die es da auch gibt?) und zu einem Punkt, wo wir über den Fluss (die Wilna) schauen konnten. Er zeigte uns verschiedene Kirchen und erklärte irgendwas, was ich wegen Konzentrationsproblemen nicht so ganz mitbekam. Oder ich interessiere mich einfach nicht für Geschichte. Nunja. Dafür genoss ich es, die Stadt zu beobachten. Es sah erstaunlicherweise nicht wirklich fremd aus, obwohl ich mich schon ziemlich weit weg, ziemlich weit nördlich fühlte. Wir sahen auch Užupis. Das gefiel mir! Užupis ist ein Künstlerstatteil, ein Szeneviertel, ein interessanter Ort. Ein Punkt, der mich an Christiania in Kopenhagen erinnerte, war der Fakt, dass sie sich als quasi eigene Republik sehen (natürlich etwas ironisch gemeint). Sie haben eine eigene Verfassung, eine eigene Flagge, ein Wappen, ein, äähh, Parlament, glaube ich. „Užupis“ heißt „hinter dem Fluss“. Ich mag deren Verfassung, sie ist menschenfreundlich und kognitiv funktional und lustig. Im Ernst, coole Verfassung. Sie haben die Verfassung auf großen Silbertafeln an eine Mauer gehängt, eine Tafel für jede Sprache, die seltsamsten Sprachen waren dabei (georgisch sieht total ulkig aus). Am Fluss sah ich sehr viel Kunst, lauter alte Klaviere standen herum. Ich mag alte Klaviere, überhaupt, Musikinstrumente sehen oft wunderschön aus. Und Bilder an den Wänden, ich konnte mich kaum losreißen. Ich scheine ein sehr visueller Typ zu sein.

Wir sahen auch Plattenbauten, die fand ich auch interessant. Die Fenster in den verschiedenen Wohnungen waren unterschiedlich, daran konnten wir erkennen, dass die Wohnungen den Leuten gehörten und nicht gemietet waren. Weil es also so viele Parteien in einem Haus gab, zog sich das teilweise mit der Renovierung. Die finanziellen Verhältnisse sind dort anders, für uns zumindest war so alles etwas günstiger. Wie auch immer, coole Stadtführung, er weiß sehr viel. Was war noch? Hm… das jüdische Leben erklärte er uns auch – nur, dass leider davon nicht mehr viel übrig ist. Dieser Teil der Geschichte macht mich immer sehr nachdenklich. Auch an diesem Punkt war ich leider nicht recht konzentriert und weiß nicht mehr, was er erklärt hat.
Die Fahrräder hatten wir eine Woche lang zur Verfügung. Wir, das sind ich und Lieblingsmensch mit 50% DNA-Übereinstimmung (ausgenommen Transposone und Epigenetik – jaja, ich weiß, den Witz habe ich in einem anderen Beitrag schon gebracht, egal). Mit den Fahrrädern sind wir nach Trakai gefahren (dort gibt es Seen, so viele Seen! Unglaublich) und auch, verknüpft mit Zugfahrt, nach Kaunas. Auch dort, in den Straßen voll das Leben. Ich habe mich gefragt, sind Litauer immer so unternehmungslustig? Oder freuen sie sich einfach dermaßen über den Sommer, weil der Winter so lang ist? Keine Ahnung, ich fand es schön zu sehen. Zugfahren mit Fahrrad war übrigens immer total einfach. Das hat die Ausflüge auch ganz praktisch gemacht – eigentlich wollten wir ans Meer, aber nun ja, das hätten wir wohl besser planen müssen. Egal, ein andernmal, dafür hatten wir mehr Zeit in Vilnius, und das genoss ich. In Kaunas fließen zwei Flüsse zusammen und an diesem Punkt gibt es einen tollen Park und alte Bausubstanz, irgendeine Burg. Wir sind dann von Kaunas einfach nach Nordosten gefahren, wir wollten bis zu einem Bahnhof kommen und dann zurück nach Vilnius. Uns ist aufgefallen, wie saftig das Gras und die Natur hier sind. Da, wo ich wohne, ist es total trocken, der Unigarten leidet, das Gras ist braun. In Litauen war das Gras grün und wucherte, der Löwenzahn und die Brennesseln sahen ungemein lecker aus. Mir gefielen die Hügel, allgemein, die Landschaft. Ob es überall im Land so aussah? Den Fahrradweg bastelten wir uns über GPS, ich benutzte die App Naviki, meine Begleiterin begann irgendwann, nicht so begeistert davon zu sein, weil wir einfach öfters in Ecken geschickt wurden, wo es keine Fahrradwege gab oder der Weg nur aus maroder Schotterpiste bestand. Nunja, war schon unkomfortabel. Kommt sicher darauf an, wo mensch unterwegs ist. Oder welche Karte mensch so benutzt. Oder ob mensch regelmäßig links und rechts verwechselt, wie ich es tue. Wir fanden, als wir wieder einmal eine Sackgasse erreicht hatten, ein Grundstück, das weiter unten eine Badestelle zu haben schien für den See, zu dem ich wollte. Ich fasste mir ein Herz und ging dorthin mit meinem Fahrrad. Eine Frau und ein paar Kinder kamen heraus und unter Benutzung rudimentären Englischs erfuhr ich, dass sie uns einlud, auf das Grundstück zu kommen und zu baden. Das fand ich so freundlich! Außerdem war mir so warm, dass ich ziemlich dankbar war. Diese vielen Seen liebe ich. Ich könnte mir nicht vorstellen, weit weg von irgendeinem See oder Badegewässer zu wohnen.
Zurück in Vilnius fanden wir ein sehr gutes Hostel (irgendwie Glückssache, zwei andere waren eher semioptimal). Meine Begleiterin schien sich mit dem Betreiber anzufreunden, der ziemlich kommunikativ war. Einmal gingen wir zur Markthalle, neben der auf dem Gehweg nebeneinander ältere Frauen saßen und ihre selbstgesammelte Ware verkauften. Wir wollten etwas aus den Pilzen kochen, die hier gerade Saison hatten und vermutlich überall aus dem Boden ploppten. Wir kauften auch litauisches Brot, das in absurd riesigen Laiben gebacken wird und ganz schwarz ist. Wir witzelten, mit einem solchen Brotlaib wäre der halbe Koffer wohl voll. Stimmt auch.
Wir waren auch an der Uni, aber es scheint keine Fakultät für Naturwissenschaften zu geben. Dafür eindrucksvolle Fresken in der Bibliothek. Beim Besuch der Uni hatte war ich seltsam erschöpft, weil ich bestimmt eine Stunde in einem Laden verbracht habe, indem ich mich durch verschiedene CDs mit litauischer Musik gehört habe. Ich hatte so die Ahnung, dass es hier ganz tolle Musik geben muss, aber bei meinem extrem wählerischen Musikgeschmack war es nicht so einfach, überhaupt herauszufinden, was ich suchte. Oh, und die vegane Pizza muss ich noch erwähnen. Alter, war die toll. „Casa la Familia“ hieß der Laden. Soo eine Auswahl veganer Pizza, und so lecker, dass wir zweimal hingingen.
Zurück fuhren wir den gleichen Weg: mit dem Bus nach Warschau, von Warschau mit dem Zug nach Berlin. Ich würde gerne irgendwann wieder nach Litauen kommen.
Schreibe einen Kommentar