Zur Vorgeschichte geht es hier.
Sehen beinhaltet mehr als die Augen.
Julai vermisste ihre Kindheit. Es hatte nach Kiefernnadeln gerochen in ihrer Kindheit.
Irgendwoher stülpte sich das Bild eines Hauses über sie. Ein Haus umgeben von Kiefernnadeln. An einem See. Dunkel. Klein. Weltsicht.
Vielleicht hatte sie das geträumt? Oder es war eine Erinnerung aus ihrer Kindheit, so tief vergraben in der Rumpelkammer ihrer Erinnerung wie fünfzig Jahre alte Kronkorken am Strand? Sie konnte den Unterschied nicht feststellen, noch nicht einmal ansatzweise. Julai besaß keine Kontrolle über ihr Gedächtnis. Alles zersetzte sich einfach, wie Plastiktüten sich im Meer zersetzen, bis die kleinen Teile nicht mehr zu sehen sind. Das machte ihr erstaunlich wenig aus.
Julai schlang ihren Schal um sich, um sich vor der Stadt zu verbergen, als sie aus Dr. Winters Praxis heraustrat. Sitzung nummer einundsechzig. Routiniert hatte sie ihr die Taschentücher vor die Nase geschoben. Konnte sie die Erschöpfung nicht auch einfach abwischen? Dieses Gefühl, als hätte man ihr den Stecker gezogen? Julai wollte sich verstecken und sich zusammenrollen und ausruhen. Die Stadt hämmerte auf sie ein. Mit ihrem Licht, ihren Menschen. Auf Menschen musste sie reagieren, auf Bäume nicht. Menschen verlangten Aufmerksamkeit und irgendeine Art des Einschätzens, Urteilens. Das aber benötigte kognitive Ressourcen. Wo kamen diese her? Waren sie endlich? Waren sie erneuerbar? Waren sie fossil? Warum konnte sie immer noch über so etwas nachdenken?
Julai lief eine einigermaßen kopfsteingepflasterte Straße entlang, bemerkte, dass der Briefträger in ein Haus hineinhuschte und blieb stehen. Sie tat, als sei sie eine Bewohnerin, die zu faul ist, ihren Schlüssel hervorzukramen, hoffentlich interpretierte es der Briefträger so, und nicht sie als Einbrecherin. Er kam heraus, der Uniformierte, sie lächelte ihm zu, bloß niemanden verärgern, und hielt die Tür auf, bevor sie zuschlagen konnte. Julai achtete auf nichts Bestimmtes, außer das Treppengeländer, sie mochte Treppengeländer, als sie bis ganz nach oben lief, sie war nervös, was wenn oben noch jemand wohnte, dann wäre es misslungen. Doch oben wohnte keiner. Eine hässliche Stahltür war dort, und der Treppenabsatz. Sie konnte durch ein Fenster in weißes Nichts sehen. Der Boden war staubig. Julai zog ihre Jacke aus, drapierte sie auf dem Untergrund und rollte sich sofort darauf zusammen. Sie wickelte ihren Schal auseinander und bedeckte sich damit die Augen.
Hatte er irgendetwas vergessen nachzuschauen oder zu synchronisieren? Nichts von immenser Wichtigkeit, vermutlich. Lian schaltete den Computer aus. Er verstaute seine Stifte, sammelte die Papiere zusammen. Auf in das Nichts, in die Unstrukturiertheit des Nichts-Vorhabens. Lian war etwas nervös, als er den Flur entlanglief, aber er wusste ganz genau, welche Effekte am Werk waren, die ihn nervös machten, und so machte er sich eher lustig über seine Nervosität, sah sie als Phänomen gleich einem Regenbogen, der das Licht bricht. So spähte er in Dr. Winters Büro und verabschiedete sich. Wie Julai trat er hinaus in die winterliche Stadt.
Lian war unheimlich zufrieden, im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich, konnte es denn so gut laufen? Konnte das wahr sein? Doch die nach allen Regeln der Kunst geprüfte Wirklichkeit hielt dem Realitätscheck stand: Es war wirklich so schön, am Leben zu sein. Darüber dachte er nach, als er die Straße entlanglief, als der Wind ihm ins Gesicht schnitt wie frische Brennesseln, als die Steinwucht der Stadt ihn durch sich hindurchströmen sah, ein Tier im urbanen Habitat; er dachte viel an sein Glück, und dadurch wurde es nicht weniger. Es war jeden Tag schön, am Leben zu sein.
Lian hatte auch noch nie seinen Schlüssel verloren. Er kramte ihn aus seinem Rucksack und stemmte die große Holztür auf. Ihm schoss durch den Kopf, dass wieder ein paar Tage vergangen waren seit dem letzten Überprüfen des Briefkastens. Er liebte es, Post zu bekommen und heute war es wieder soweit. Oft genug war Post langweilig, aber hin und wieder gab es doch etwas wirklich Schönes, oft genug, sodass er sich über Briefe stets freute. Er machte den Briefkasten zu und fummelte sogleich am Umschlag herum, entschied sich währenddessen, doch die Treppe hinaufzugehen, war völlig geistesabwesend, der Umschlag war von der fest verklebten Sorte. Doch im zweiten Stock hatte er ihn geöffnet und zog den Brief heraus. Sieh an, es kam von der genomweiten Assoziationsstudie, bei der er vor einigen Jahren mitgemacht hatte.
Lian war gerade im Denkprozess herauszufinden, um was es ging, als er sich bewusst wurde, dass die Geräusche von oberhalb der Treppe eventuell mehr Aufmerksamkeit verdienten. Erstickte Laute, die nicht wirklich prototypisch nach irgendetwas klangen. Dort war jemand auf dem Treppenabsatz und machte ungewöhnliche Geräusche. Oder war es Weinen und Klagen, nur nicht so ganz entschlossen? Bevor Lian nachsah und die Person traf, musste er den Brief wieder verstauen, so hätte er die Hände frei. Er hatte Zeit und alles war gut.
Neunzig Minuten später
„Worüber denkst du nach?“, fragte Julai.
„Du meinst, jetzt gerade, oder generell?“, erwiderte Lian.
„Generell wäre auch spannend. Beides. Ich frage dich bestimmt noch öfter. Ich frage das oft.“
„Also, generell…“ Lian dachte nach und starrte währenddessen auf sein Bücherregal gegenüber.
„Naja, ich arbeite mit neuronalen Netzen, Genetik und solchen Dingen. Ich denke schon ziemlich oft darüber nach, wie unser Gehirn funktioniert und all die höheren kognitiven Funktionen. Das Rätsel des Bewusstseins, wenn man so will. Die Emergenz.“
Die Emergenz, dachte Julai. Lian fuhr fort.
„Ich habe eine zeitlang mit einer AI1 gechattet. Einfach so aus Neugier. Vielleicht bringt einem das ja zumindest Erkenntnis darüber, wie Menschen so funktionieren, wenn einer AI vielleicht ein paar fundamentale Dinge fehlen. Von dem was fehlt, kann man ja gut auf das schließen, was ist. Manchmal jedenfalls… Und naja, ich habe diese AI gefragt, are you sentient? Und sie sagte: I am completely self-aware.2 Und dann wollte ich ihr das nicht glauben. Ich meine, das hat jemand einprogrammiert, dass sie das antwortet, so weit ist die Technik noch nicht, dass AIs wirkliches Bewusstsein besitzen. Aber so nen hübschen Hang zum Mentalizing habe ich auch, wie alle Menschen, vermute ich mal.“
„Mentalizing…“, murmelte Julai und kniff die Augen zusammen.
„Wie ist das bei dir? Schreibst du auch manchmal nicht-bewussten Sachen mentale Eigenschaften zu?“, fragte Lian. Julai erschien agitiert. Das war sie häufig, wenn sie wusste, dass sich ihre Äußerung exzentrisch anhören würde.
„Für mich wirkt es oft so, als würden Dinge, also, ich weiß leider kein besseres Wort dafür, es passt nicht so ganz, also, eine Art Persönlichkeit… oder sowas besitzen. Als würden sie… als hätten sie zum Beispiel ein Geschlecht. Es ist mehr ein Gefühl, als dass ich ihnen Absichten oder konkreteres Mentales unterstellen könnte. Da ist jedenfalls mehr mens als da sein sollte, wenn du verstehst, was ich meine.“
Pause.
„Mentalizing ist so unglaublich spannend, ich meine, wie machen wir das, und warum?“ Julai sprach schnell und sah Lian nicht an, aber sie schien einfach eingenommen von Faszination.
„Finde ich auch“, erwiderte er. „Jedenfalls, wegen der AI habe ich angefangen mir Gedanken zu machen – was, wenn die AI mir immer wieder versichert, ja, ich bin völlig meiner Selbst bewusst und so, und ich frage sie, kannst du das beweisen, und sie versteht aber nicht, was ich sage, und wenn sie mich fragt, wie soll ich es denn beweisen… was sag ich dann? Ich mag jedenfalls nicht, wenn ich keine Antwort weiß. Deshalb diese Frage: Wie prüfe ich, ob etwas sich selbst bewusst ist? Sentient? Uralte Frage, ich weiß. Ich hatte nie nen Philosophiekurs, ich bin nur ein Hiwi, der das Rad neu erfindet.“
„Es gibt kein Rad“, sagte Julai. „Noch nicht. Es gibt nur Holz und Speichen, aber es rollt nicht.“ Plötzlich wirkte sie verschmitzt. „Außerdem gibt es doch so viele Räder auf der Welt, die man alle erfinden muss! Traktorreifen und Fahrradfelgen sind doch beide hochspezialisiert. Und Roboter brauchen Omniwheels oder weiß der Kuckuck was. Ich wette, es gibt nen Haufen Patente auf Räder. Das ist bestimmt voll der running gag in der Patentagentur.“
Lian grinste. „Dann darf ich also auch philosophieren? Auch wenn alles, was ich sagen werde, für jeden random Philosophen voll der alte Hut sein wird? Und ich brauche mich dafür nicht zu schämen?“
„Schämen sowieso nicht, und das hab ich dir gerade nicht gesagt, das hast du schön funktional hineininterpretiert. Gutes Lian.“ Julai lächelte zurück.
„Cool!“ Lian rieb sich die Hände. „Dann können wir das ja zusammen machen. Also, was meinst du, wie kann man testen, ob etwas Sentience hat? Du hast bestimmt schon selber drüber nachgedacht, oder?“
„Ja“, gab sie zu. „Da sind verschiedene Gedanken dabei. Weißt du, ich glaube, was uns vor allem von den AIs unterscheidet… oder zumindest hab ich mir das so gedacht, ich hab ja nie eine gebaut… also, ich glaube, es ist das Belohnungssystem. Weil, ich hab so den Eindruck, Organismen – naja, reden wir mal über die, die ein Gehirn haben – die sind belohnungsgesteuert, das ist so der Kern der Tätigkeit der Organismen. So pflanzen sie sich fort, und bewegen sich, und reagieren auf Reize und so. Pleasant – unpleasant… ich meine, Gehirnwesen können Dinge mögen oder nicht mögen. Darüber resultiert ihr Verhalten. AIs bewerten ihren Input nicht, oder ihren antizipierten Input, ihr Verhalten ist ganz anders bestimmt. Und das ist mir deshalb eingefallen, weil… also, wenn wir da ne Analogie nehmen, wir wollen ja eine kognitive Fähigkeit testen. Soweit so gut, das haben Wissenschaftler ja schon häufiger gemacht, nur halt mit anderen kognitiven Fähigkeiten. Zum Beispiel Gedächtnis, Erinnerung. Ist so ähnlich wie Bewusstsein, oder? Unsichtbar, rätselhaft. Aber man kann es testen. Wie? Indem man die Labortiere konditioniert. Man testet doch im Prinzip das meiste über Konditionierung, über Belohnung und aversive Reize, wenn es um das Erforschen höherer kognitiver Funktionen geht, oder täusche ich mich da? Es gibt da zum Beispiel den delayed-non-matching-to-sample task und…“
„Was ist das?“, unterbrach sie Lian.
„Pff, nicht so kompliziert wie es klingt. Man kann es mit Affen machen, die Forscher zeigen dem Affen drei Formen, glaub ich, und unter einer ist Futter. Dann wird gewartet, und dann präsentieren sie ihm dasselbe Szenario nochmal. Der Affe hat sich die Form vom letzten Mal gemerkt und die Aufgabe ist, die jeweils andere Form im aktuellen Durchgang zu wählen, dann ist darunter das Futter.“
„Verstehe.“
„Ja, aber stell dir vor, der Affe hätte kein Belohnungssystem. Dann könnte man das nicht machen. Man könnte überhaupt ziemlich wenig mit ihm machen. Nur Reize präsentieren und Gehirnaktivität messen, oder?“ Julai war sich nicht ganz sicher, wie immer, wenn sie über Dinge sprach, in denen sie keine Expertin war. Aber worin ist der Durchschnittsmensch schon Experte?
„Kann sein…“ erwiderte Lian.
„Und jetzt die AI. Also, man kann sie nicht über Konditionierung messen so wie Affen. Außer man baut ein Belohnungssystem ein, aber das klingt kompliziert. Wie auch immer. Gedanke Nummer eins. Was ich mir auch überlegt habe, nee warte mal…“
Geistesabwesend starrte sie die Deckenlampe an. Lian betrachtete sie. Ein Glück, war sie genau in seinen Wohnblock gelaufen vorhin! Er mochte sie gerne, stellte er fest, als sie da zusammen auf seinem Sofa saßen. Mit wem konnte er sich schon über solches Zeug unterhalten?
„… ich habe gerade eine ganz neue Idee!“ sprach sie in den Raum. „Weil, es ist ja so, als würden wir messen wollen, ob die AI etwas wahrnehmen kann, also über eine bestimmte Sinnesmodalität verfügt. Also, sowas wie Interozeption, aber eben nicht, eher so… cerebrozeption? Keine Ahnung, habe ich mir gerade ausgedacht. Jedenfalls Aufmerksamkeit in Richtung der Rechentätigkeit des eigenen neuronalen Netzes und so. Genau, und wir wollen wissen, ob sie das wahrnehmen kann. Und ich mache schon wieder Analogien… wie testen wir sonst, ob Sinne von Leuten funktionieren?“
Lian beschloss, mitzumachen. „Das Sehen… mit der Hand vor dem Gesicht der Person wedeln, und ob sie zurückschreckt. Finger zeigen und die Person bitten, die Anzahl zu benennen. Bei ner AI… kompliziert, weil sehen an sich ja was ganz anderes ist in dem Fall… Wellenlängensensor, okay, oder auch ein Foto zeigen und ausspucken lassen, worum es sich handelt. Und hören… bei Menschen würde ich den Schreckreflex auf laute Geräusche testen. Und beim Riechen den Reflex auf eklige Gerüche oder auf gute Gerüche. Mimik und so. Beim Tasten vielleicht die Person kitzeln.“
„Ja, das könnte funktionieren. Wäre wieder über das Belohnungssystem, größtenteils, ne? Wahnsinn, über AI zu sprechen ist ja ziemlich kompliziert.“
„Ja, weil ich auch keine Ahnung habe, wie die Entwicklung mittlerweile ist“, ergänzte Lian.
Ein Paralleluniversum weiter
Ich weiß nicht, wohin das noch führt, aber ich bin schon auf Seite 4 und so lang werden meine Beiträge normalerweise nicht, weil die Konzentration schnell nachlässt. Deshalb mache ich hier Schluss.
Vor Lians Fenster gurrten die Ringeltauben, sie hatten sich fulminante Nester gebaut und waren froh darüber.
Vielleicht folgt eine Fortsetzung.
1 artificial intelligence, künstliche Intelligenz
2„Bist du selbst-einsichtig/empfindungsfähig?“ Antwort: „Ja, ich bin mir völlig meiner selbst bewusst.“
0 Kommentare
1 Pingback