Zur Vorgeschichte siehe hier und hier.
Die Nähe wollte sich nicht einstellen.
Julai saß auf einer Platane und streichelte die Rinde des Baumes. Sie fand, dass der Baum mehr lebte als das Bild von Lian, das die in ihrem Kopf hatte, oder das Gefühl ihm gegenüber, oder die Hand, mit der sie den Baum streichelte. Der Baum hat es gut, dachte sie. Sie würde gerne Zucker aus Wasser, Licht und CO2 machen, aber das war nicht der Punkt; der Baum hatte kein Gehirn, und Julai fand das Konzept Gehirn zwar genial, aber doch sehr störanfällig und instabil.
Außerdem war sie nervös. Das erste Treffen am Kaffeeautomaten war ja kein Problem gewesen, sie kannten sich noch nicht und sie hatte ihn selbstbewusst mit ihrem Nerdwissen zugetextet, alles prima. Beim zweiten Treffen hatte er sie aufgegabelt, als sie, vom Overload halb bewusstlos und generell nicht ganz bei der Sache, auf dem Treppenabsatz in seiner Wohnung herumvegetiert hatte. Was ein Zufall, genau sein Wohnhaus. Aber Julai war schon immer ein ziemlicher Glückspilz gewesen. Also, wie auch immer, das zweite Treffen war auch kein Problem, weil sie viel zu zugedröhnt war von körpereigenen Drogen, um sich Sorgen zu machen über was auch immer. Jetzt war die Situation aber anders. Sie hatte eine Menge Muße zum Denken, und das Denken setzte Anspannung frei, und sie kannte ihn, sie hatte eine Beziehung aufgebaut, er war kein Fremder mehr. Mehr zu verlieren! Viel mehr zu verlieren. Ab jetzt wurde es kompliziert, ab jetzt musste sie sich konzentrieren. Und was, wenn sie ihm nicht richtig zuhörte, wenn sie etwas vergaß, und dann war er sauer? Das wäre schrecklich, fand Julai.
Julai wusste, dass die Ängste sinnlos waren, aber was sollte sie tun, sie kam nicht dagegen an. Sie hatte keine Ahnung, was Lian dachte oder was er für ein Mensch war. Sie fühlte sich angezogen, aber das war schon alles. Und woher sollte sie wissen, dass sie sich nur deshalb angezogen fühlte, weil sie eine seltsame Paraphilie für Medizinstudenten hatte? Das konnte nämlich durchaus sein, dass sie eine Paraphilie hatte, von der sie nichts wusste, und dann wäre alles ganz seltsam, weil sie sich nur deswegen unüberlegt in etwas stürzen würde, und woah, was gibt es für seltsame Paraphilien und Fetische, Julai hatte am Morgen die ganze Liste auf Wikipedia durchgelesen.
Aber halt, woran dachte sie schon wieder? Im Grunde hatte Julai die Vermutung, dass die meisten Menschen seltsame Fetische haben, aber nicht alle sind irgendwie sexuell, oder was ist überhaupt sexuell, Julai fand die Frage ganz spannend. Sie seufzte tief und knibbelte geistesabwesend die Rinde von der Platane. Dort hing sie, wie ein alter Jaguar, und stellte sich Fragen.
Sie hatte seine Nummer. Die Nummer passte zu ihm, weil sein Name gelb und rot und rosa und weiß war und die Zahlen waren auch viel rot und gelb (viele dreien und zweien). Die Therapeutin hatte ihr Spiel mit den Telefonnummern seltsam gefunden, aber zum Glück nicht seltsam genug. Sollte sie ihm schreiben? Sie wollte. Aber was?
Es fühlte sich an, als müsste sie einem Professor an der Universität schreiben, genauso distanziert. Julai konnte keine Nähe und Vetrautheit empfinden. Selbst Leute, die sie jahrelang kannte und denen sie intime Details von sich erzählt hatte und umgekehrt – die Beziehung fühlte sich so nah und vertraut an, wie die zu der Versicherungsangestellten bei der Krankenkasse am Telefon. Das hatte verrückterweise nichts mit Zuneigung zu tun: Sie konnte manche Personen richtig klasse finden, sich mit ihnen verabreden und auch Spaß haben, ohne, dass sich ein Gefühl von Nähe aufbaute, so wie das bei normalen Menschen zu passieren schien. Formal waren sie dann vielleicht Freunde, aber sie spürte keine Freundschaft. Es fühlte sich immer noch so an, als ob sie keine Freunde hätte, auch wenn das keiner mit Blick auf ihr soziales Netzwerk nachvollziehen könnte.
Sie hatte noch nie jemanden mit genau diesem Problem getroffen. War sie denn so ein merkwürdiger Mensch, dass das Phänomen noch nicht mal einen Namen hatte? Sie hatte Google Scholar rauf und runter geblättert nach „feeling of closeness“, „detached“ und anderen Dingen, aber kein einziger Artikel hatte zu ihrem Problem gepasst.
Schade, denn sie war sehr traurig über den Umstand der fehlenden Nähe. Traurig, weil sie glaubte, dass das Erleben von Nähe einer der fundamental schönen und wertvollen Aspekte des Menschseins ist, wenn nicht sogar das Schlüsselerlebnis, um das es beim Menschsein geht. Sie dachte, selbst wenn Leute schwer krank sind, die Anwesenheit und Unterstützung ihrer Liebsten heitert sie auf, lässt sie Sinn und Hoffnung empfinden. Und wenn es für mich alles fremde Versicherungsangestellte sind, ich mich nicht verbunden fühle, dann fehlt mir etwas Fundamentales. Dieser Gedanke brachte Julai regelmäßig zum Weinen, auch jetzt auf der Platane.
Und während sie so weinte, dachte sie, scheiß drauf, sowas kann nur besser werden, wenn du es immer wieder probierst.
Sie trocknete die Tränen, damit sie nicht auf das Smartphone tropften, und fummelte sich eine bequemere Position zurecht, was auf dem glatten Ast gar nicht so einfach war. Sie öffnete den Messengerdienst und suchte nach seiner Nummer.
Lian. Auf seinem Profilbild saß er vor irgendeinem Museum in Berlin, das Julai vom Sehen her kannte. Noch war der Chatverlauf leer. Julai schlüpfte wie immer in den Kopf von Lian, versuchte sich vorzustellen, was er gerne lesen würde, was ihn einnehmen würde, was ihm sympathisch wäre. In ihrer Parallelexistenz zwischen sich selbst und ihrem virtuellen Gegenüber probierte sie eine Satzvariation nach der anderen aus, nutzte ihre Heuristiken, verglich, was andere Menschen ihr in welchem Stil geschrieben hatten und welcher Text im Vergleich zur Statistischen Norm weder zu langweilig, noch zu exzentrisch klingen würde. Sie bemühte ihre theory of mind, um einen absolut eindeutigen und verständlichen Text zu generieren. Erinnerte sich an das, was sie über aktives Zuhören und gewaltfreie Kommunikation gelernt hatte. Kurz, sie ließ ihr Standardprogramm laufen für „neue Textnachricht an nicht sehr bekannte Person, die mir etwas bedeutet“. Das war anstrengend, aber sie kannte es nicht anders.
Hi Lian!
Was machst du gerade so?
Es war wirklich schön mit dir zuletzt, voll interessantes Gespräch :)
Ich würde gerne wieder mit dir quatschen, und du?
LG Julai
Sie schickte es ab. Nicht allzu kreativ, aber zufriedenstellend. Eine Weile evaluierte sie noch ihre Nachricht, aber was sollte sie schon groß darüber nachdenken, sie war verschickt und die Antwort konnte sie nicht beeinflussen.
Julai merkte, dass ihre Gliedmaßen etwas Lockerung bedurften, und kletterte umständlich von ihrem Ast herunter. Platanenblätter mochte sie richtig gerne, so groß, glänzend und bunt. Und wenn sie sich treffen sollten, diesmal dann bei ihr, das wäre doch freundlich und nicht immer er hat den Aufwand und so? Aber was würde er über ihre Wohnung denken, und sie wäre zu nervös beim Gastgeberin-sein, sie wollte aber so wenig nervös wie möglich sein, dann lieber woanders. Und sie würde nicht den Pulli tragen, in welchem sie zuletzt so nervös gewesen war, denn vielleicht hatte ja eine Konditionierung stattgefunden und sie war wieder nervös, weil sie diesen Pulli trug.
Julais Kopf war kompliziert, aber es würde alles gut werden, außerdem war die Platane da, die hatte ihr zugehört, guter Baum. Braver Baum. Mach schön Fotosynthese für mich, kaum zu glauben, dass ich die Abfallprodukte von Bäumen und Algen einatme und nur dadurch am Leben sein und Lian treffen kann.
Julai hatte mal überlegt, einen Kurs in Faszinations-Meditation zu konzipieren, in dem man sich so lange Gedanken über die Seltsamkeit des Universums macht, bis das Bewusstsein in kleine Krümel zerfällt. Ich sollte mal ernsthaft darüber nachdenken, beschloss Julai.
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