Hey. Ich freue mich jeden Tag darüber, dass ich Psychologie studieren kann. Das ist vermutlich voll das Privileg. So oft habe ich schon Leute getroffen, die sagten: „Woah, Psychologie find ich auch spannend. Hätte ich ja auch gerne studiert.“ Aber es ist hart, überhaupt erstmal in den Bachelor zu gelangen – Psychologie ist beliebt. Tut mir leid, wenn es nicht klappt und jemand eigentlich echt ein gutes Psycholog*in geworden wäre. Manchmal denke ich mir aber, Leute, seht euch erst einmal an, was ein Psychologiestudium ist. Wir werden hier nicht über unsere Gefühle reden, Freud lesen oder unsere Träume deuten oder herausfinden, wer wir sind. Zumindest nicht in den meisten Unis.
Dafür ist es sehr forschungsorientiert, einem wird schlecht von den Sachen, die mit den armen Ratten und Affen angestellt wurden (hin und wieder tun einem auch die Versuchspersonen leid) und es geht eine Menge um Varianzanalysen und Diagnostiksysteme. Ich habe schon Leute getroffen, die es ein wenig bereut haben, Psychologie zu studieren (etwa drei), weil es ihnen zu wissenschaftlich war. Ich dachte mir, schade, jemand anders wäre vielleicht mehr darin aufgegangen.
(Tipps für studierende AD(H)Sler, die an dieser Stelle vielleicht erwartet werden, kommen weiter unten, mir ist nämlich erstmal ganz viel anderer Kram eingefallen.)
Für mich ist es quasi der Himmel auf Erden – Varianzanalyse, immer gerne! Wissenschaftstheorie, logistische Regression, within-subject-designs und Datenbankrecherche, das macht alles total Spaß. Über Gefühle reden und schwammige psychoanalytische Theorien auseinanderzunehmen, ist dagegen nicht so mein Fall (Psychoanalyse hat durchaus ihre Berechtigung, es geht mehr um persönliche Präferenzen). Wenn Theorien nicht so richtig empirisch sind, finde ich sie eher langweilig. Was nicht heißt, dass sie weniger wertvoll sind; ich habe einfach weniger Zugang dazu. Das ist kein AD(H)S-Symptom, das ist vermutlich ein Persönlichkeitsstil.
Da frage ich mich auch manchmal, ob etwas mit meiner AD(H)S-Diagnose nicht stimmt. Wie kann ich der krasseste Streber sein, der lauter 1,0-en schreibt? Vielleicht habe ich einfach einen tollen Psychiater. Oder es ist das Achtsamkeitstraining. Oder ich habe einfach eine Nische gefunden und bin viel zu happy. Oder mein AD(H)S ist nicht so ausgeprägt. Aber wenn ich die Medis nicht nehme, steht nach zwei Wochen meine Wohnung unter Wasser. So halb, zumindest. Und ich höre nicht mehr zu, wenn jemand auf meine Beiträge im Seminar reagiert. Und ich bin viel emotionaler. Aber naja, so schlimm wie bei anderen scheint es auch nicht zu sein. Keine Ahnung, vielleicht kann man das nicht beantworten.
Vielmehr möchte ich mit einem Vorurteil aufräumen. AD(H)Sler können sich konzentrieren – wenn sie von einer Sache begeistert sind und einen guten Psychiater haben. 90% des Studiums begeistern mich, weil mich Forschung begeistert. Die 10%, die mich nicht begeistern, sitze ich im Seminar und höre nicht zu, kritzle stattdessen herum oder schreibe nebenbei Gedichte auf meinem Laptop. Das ist dann richtig unangenehm, denn im Studium kann man im Prinzip nicht mal eben „nicht zuhören“, weil alles wichtig ist. Manchmal musste ich sogar das Seminar verlassen, weil das Ankämpfen gegen die Unkonzentriertheit sich so schlimm angefühlt und nicht funktioniert hat. Vorlesungen sind generell angenehmer, ich finde Frontalunterricht irgendwie schön.
Lass dir von der Diagnose nicht sagen, wozu du fähig bist! Es gibt auch Ärzte mit AD(H)S. Whatever. Begeisterung nutzen, Leidenschaften nutzen. Darauf ist man auch schon in der Umweltpsychologie gekommen: Im Bereich Nachhaltigkeit gibt es verschiedene Nischen und alle Stärke-Schwäche-Cluster sind wichtig. Nicht alle sind mutige Aktivisten, die sich auf Braunkohle-Förderbänder setzen und dort ausharren (wobei einem Ende Gelände das schon relativ einfach macht, man muss keinen Polizeikontakt haben, wenn man nicht will, hey ja, ich schweife total vom Thema ab gerade, aber ich überlege mir sowieso nicht vorher, worüber ich schreibe, sondern denke mir das alles spontan aus, das ist bestimmt blöd für den Lesefluss, Entschuldigung, egal). Ähm. Also, manche sind auch total begeistert vom Sachen bauen, oder vom Malen, oder vom Geschichten erzählen, oder von Wissenschaft. Mutige Aktivist*innen scheinen zwar am direktesten was zu bewegen, aber alle anderen Rollen sind genauso wichtig. Leute, die sich Sprüche für Banner ausdenken können oder Fahrräder reparieren oder Software für Umweltschutzvereine basteln. Ich glaube, das habe ich an anderer Stelle schon geschrieben und ich wiederhole mich gerade. Ach, mir ist es einfach wichtig, dass Leute wissen, wieviel ihr Zutun bedeutet. Dass man keine Greta Thunberg sein muss, um etwas für den Klimaschutz zu tun. Man kann auch als Wissenschaftler öffentlich verkünden, dass man nicht mehr fliegt. Man kann eine coole Skala für Umweltverhalten entwickeln, denn richtig gute Tests, um irgendwas zu messen, sind gar nicht so einfach herzustellen.
Ein Beitrag voll random Idealismus? Genau.
Ich würde gerne mehr Tipps geben für
andere, die studieren und AD(H)S haben und sich besser konzentrieren
und ihren Kram auf die Reihe kriegen wollen. Aber so viel habe ich
auch nicht zu bieten, glaube ich. Nachteilsausgleiche kann man
machen, oder z.B. auch in der Uni nachfragen, ob es einen ruhigen
Raum gibt, wohin man sich zurückziehen kann (z.B. habe ich am Anfang
den Code für den Eltern-Kind-Raum bekommen, im Fall von
Reizüberflutung oder plötzlicher überwältigender Erschöpfung,
wie sie bei ADS manchmal auftritt). Dort kann man auch meditieren.
Oder Sport machen – nach 20 Minuten steigt signifikant der
Noradrenalinspiegel, sagt der Psychiater. Das gleicht das AD(H)S ganz
gut aus. Vielleicht gibt es ja einen Fitnessraum auf dem Campus, wenn
das was für einen ist.
Lernen kann man auch draußen beim
Spatzierengehen in einer ruhigen Umgebung, wenn es drinnen gerade
nicht geht wegen Unterstimulation oder Unruhe. Dabei hilft es, mit
sich selber laut zu sprechen und die Dinge einer imaginären Person
zu erklären. Mir hilft auch die App StudySmarter mit ihrem
Gamification-Ansatz. Man steigt sogar Level auf und sammelt Punkte,
wenn man mehr Karteikarten beantwortet und erstellt! Und man kann
tolle „Awards“ verdienen. Also, bei mir funktioniert sowas sehr
gut.
Und, seltsam aber es ist so, mir hilft
es auch, beim Lernen binaurale Frequenzen zu hören. Ich habe keine
Ahnung, ob das der Placebo-Effekt ist oder nicht, denn bisher habe
ich Studien dazu nur überflogen und so überzeugend schien der
Effekt nicht zu sein… aber selbst wenn, egal, ich habe Erfahrung
mit dem Placebo-Effekt und er ist ganz schön cool manchmal. An sich
soll es aber so funktionieren, dass durch die leicht verschobenen
Frequenzen im einen und anderen Ohr (man muss das mit Kopfhörern
machen) im Gehirn EEG-Wellen mit der sich aus der Verschiebung
ergebenden Frequenz entstehen.
Das kann man einfach auf Youtube
eingeben. Da wird einem meist voll der Esoterik-Kram vorgeschlagen,
was mich etwas irritiert, aber egal. Wer mehr wissen will, was es
bedeutet, wenn man im Gehirn Wellen von z.B. 8Hz misst, kann sich in
jedem beliebigen Biopsychologie-Buch oder auf Wikipedia etwas über
EEG-Frequenzbänder durchlesen und bei welchen Bewusstseinszuständen
und Verhaltensweisen sie auftreten. Ich habe etwas rumprobiert und
finde 14Hz ohne Musikuntermalung zum Lernen ganz angenehm (liegt im
Beta-Bereich, also „konzentrierter Wachzustand“). Es soll ja
AD(H)Sler geben, die sich weißes Rauschen oder Ähnliches anhören
in der Schule, um was gegen die Unterstimulation zu tun. Wenn ich mir
das so überlege, macht das Sinn. Musik ist viel zu ablenkend, aber
so eine 14Hz-Frequenz beim Lernen findet mein Gehirn anscheinend ganz
nett. Lernen ist übrigens stark konzextabhängig, also wäre es
ideal, dasselbe Audio dann auch während der Prüfung zu hören. Der
Statistikdozent hat mir das auch erlaubt, das war cool.
Ich habe auch gemerkt, dass ich viel früher mit dem Lernen anfange als andere und dadurch vor den Prüfungen total ungestresst bin. Die meisten AD(H)Sler sind Meister im Prokrastinieren, ich bin da anders. Ich kann unter Druck nicht gut arbeiten und fange Dinge gerne superfrüh an. Faszinierend, wie unterschiedlich wir sind.
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