Hierüber wollte ich schon lange schreiben. Ungelogen, es ist eins der skurrilsten Erlebnisse, die man so machen kann! Julai hat so eine Erfahrung gemacht, wie wäre es, wenn sie uns etwas dazu erzählen würde? Ja, ein Interview, da sagt sie sicher nicht nein. Wo bist du denn, Julai? Juuuuuulaaaiii!

Julai: Mir ist, als würde das Internet mit mir sprechen. Aber das Internet kann nicht mit mir sprechen! Ich habe bestimmt Beziehungsideen! Also, dass sich zufällige Dinge auf mich beziehen! Aaah, ich kriege Schizophrenie?! Das passt mir jetzt nicht!! Aaah!

undjetzterst: Komm runter, Julai, du bekommst keine Psychose. Ich möchte dich nur freundlich fragen, ob du Lust auf ein Interview hast.

Julai: Ach jaaa, und was, wenn ich mir das auch nur einbilde?

undjetzterst: Weißt du, ich habe mir mal gedacht, wenn man wirklich immerzu daran denkt, ob man jetzt eine Psychose bekommt, oder ob das, was man denkt, vielleicht überwertige Ideen sind, müsste die Wahrscheinlichkeit, dass dem wirklich so ist, doch relativ gering sein? Außerdem hast du doch deine Tabletten genommen, oder?

Julai: Das ist doch Paradox! Aber das Leben besteht aus Paradoxen. So wie Gödels Unvollständigkeitssatz? Egal. Jaja, die Tabletten gegen Schizophrenie, obwohl ich keine Schizophrenie habe. Wiedersprüche von allen Seiten prasseln auf mich ein! Chaos!

undjetzterst: Bist du bereit, trotz der definitiven Unbeweisbarkeit, ob ich (der dich anspricht) eine Einbildung bin, und ob des Chaos in der Welt, mir ein paar Fragen zu deinem Erleben zu beantworten?

Julai: (denkt eine Weile nach) Drei Gründe sprechen dafür: 1) ich liebe Paradoxa, 2) ich liebe es, Fragen zu beantworten, 3) ich bin so prosozial, dass ich nicht mal zu einer eingebildeten Person nein sagen kann, so sie denn eingebildet sein sollte. Also dann, auf geht‘s!

undjetzterst: Ah, danke, ich wusste doch, du kannst dem nicht wiederstehen, etwas über dich zu schwadronieren!

Julai: Jaja, ich weiß. Und worum geht es jetzt genau?

undjetzterst: (fährt sich nachdenklich durchs Haar) Ääähm, um deine, ja, Persönlichkeit. Und wie sie sich verändert hat, durch die Psychopharmaka, die du nimmst. Welche nimmst du eigentlich nochmal?

Julai: Drei verschiedene. Ich nenne sie heute mal Medikament A, Medikament EM und Medikament E.

undjetzterst: seit wann nimmst du die?

Julai: Seit… (rechnet) zweieinhalb Jahren? Kommt ungefähr hin.

undjetzterst: Ah ja. Was warst du für ein Mensch vor, sagen wir, drei Jahren?

Julai: Was ich für ein Mensch war? Ich war dermaßen… also, andere Leute haben mich richtig oft für spirituell gehalten. Dieses Feedback habe ich hin und wieder sogar explizit bekommen! Aber es stimmte nicht! Oder stimmte es? Ich habe jedenfalls nie etwas mit der Spiritualität anderer Leute anfangen können. Ich war ein Anhänger der Naturwissenschaften. Aber man könnte sagen, dass mein eigener Kopf eine Welt war, in der ich eine Art geheimnisvolles System aufgebaut habe, eine Art idiosynkratische Religion. Ich habe mich hin und wieder wie auf Drogen gefühlt, hatte Erlebnisse – mit seltsamen Stimmungsschwankungen – die irgendwie sehr speziell waren. Alles war furchtbar intensiv. Wenn jemand mit mir ein halbstündiges Gespräch über persönliche Dinge geführt hat, hatte das eine Bedeutung wie ein erstes Date, oder als hätte mir gerade jemand sein tiefstes Inneres offenbart. Aber ich hatte jeden Tag erste Dates! Es war so anstrengend – ich musste stundenlang am Tag einfach nur Eindrücke verarbeiten. Außenreize jeder Art überforderten mich oft.

undjetzterst: Dann war soziale Interaktion bestimmt…

Julai: Das anstrengendste überhaupt. Ich konnte vielleicht zwei Stunden soziale Interaktion gut aushalten, danach war ich erschöpft und brauchte „Alleinzeit“. Ich habe mir gerne eigene Wörter ausgedacht für so Dinge. „Alleinzeit“, „der andere Modus“, „das Gleißen“… alles Begriffe für mein inneres Erleben, die nur ich deuten konnte. Neologismen.

undjetzterst: Und wie wirktest du damals noch auf andere?

Julai: Verträumt, ruhig. Manche hielten mich für bekifft, aber ich nahm niemals Drogen. Besonnen. Schüchtern. Aber keiner konnte mir ansehen, wie viel Angst ich hatte! Ich hatte jeden Tag Angst. Beim Aufwachen fing sie an. Ich freute mich aufs Einschlafen, denn beim Schlafen hatte ich keine Angst. Ich musste nicht funktionieren beim Schlafen. Ich konnte mich meiner Fantasie hingeben.

undjetzterst: Angst, wovor denn?

Julai: Alle fragten mich das! Therapeuten und so. Aber ich hatte nicht Angst vor etwas Konkretem. Alles wirkte bedrohlich. Manchmal fühlte ich mich wie in einem Albtraum oder Horrorfilm. Die Menschen wirkten grotesk. Vor allem bestimmte Attribute von Menschen – kennst du zum Beispiel diese Turnschuhe, deren Sohle nach hinten langgezogen ist und über den Schuh hinausgeht? Wenn ich solche Schuhe sah, konnte ich den Blick nicht abwenden, sie erschienen mir so grotesk, falsch und alienhaft. Wenn die Menschen besonders grotesk wirkten, nannte ich das das „Flimmern“. Ich fühlte mich entfremdet von allem. Alles wirkte verzerrt, so als wäre irgendwas im Kernsystem der Welt komplett falsch und verdreht. Als wäre ich auf einem fremden Planeten. Und ich hatte vor allem Angst vor anderen Menschen.

undjetzterst: Meinst du, eine Art Paranoia?

Julai: Kann man paranoid und komplett vertrauensselig auf einmal sein? Ich hatte nämlich großes Vertrauen in meine Mitmenschen. Im Wartezimmer bei der Therapie habe ich meinen Rucksack inklusive der Wertsachen immer liegenlassen, weil ich dachte, sind doch alles nette Mitpatienten hier. Aber ich hatte furchtbar Angst, dass jemand sauer auf mich ist oder dass ich jemanden verärgere. Ich konnte Zuneigung und Respekt im Übermaß empfinden und vor derselben Person trotzdem eine Riesenangst haben. Kein Therapeut hat das bisher verstanden, glaube ich… weil, das Komische ist, das ging nicht weg, wenn ich eine Person näher kannte. Bei einer Freundin war das zum Beispiel so, dass wir uns kennenlernten, eine richtig gute Zeit miteinander hatten, bis wir so ne Art beste Freundinnen waren, kurzzeitig. Woran scheiterte die Freundschaft? Daran, dass ich irgendwann anfing, Angst vor ihr zu haben! Seltsam, aber wahr.

Paranoid war ich vielleicht in anderen Dingen. Ich hatte mir zum Beispiel ein neues billiges Handy gekauft, weil ich mein Altes verloren hatte. Das Problem war, es roch komisch! Deshalb traute ich ihm nicht und wollte es nicht benutzen. Vielleicht enthielt es Giftstoffe? Solche Dinge dachte ich manchmal. Aber dann kam zum Glück Medikament A, weil meine Therapeutin die Zeichen richtig deutete.

undjetzterst: Was hat sich durch Medikament A verändert?

Julai: Wo soll ich anfangen? Einfach alles! Anfangs habe ich Medikament A „Das Gegenteil der Entfremdung“ genannt, weil dieser Begriff für mich gut zusammenfasste, was es macht. Ich bin auch zum Beispiel nicht mehr wirklich introvertiert – ich bin eher extrovertiert (je nachdem, wie man das definiert, natürlich). Ich kann Leute zu mir einladen, ohne Angstzustände zu haben! Ich kann mich stundenlang mit Leuten unterhalten, ohne danach einen „social hangover“ zu haben oder das stundenlang allein verarbeiten zu müssen. Ich habe sogar Lust auf soziale Kontakte! Ganz was anderes. Vor drei Jahren war der Mensch, den ich am häufigsten sah und der mich gewissermaßen am besten kannte, wie ich momentan war, meine Therapeutin. Sozialer Rückzug durch soziale Anhedonie nennt man das. Heute fühle ich mich im Gegensatz dazu fast wie eine „people person“! Ich kenne so viele Leute, habe keine Angst vor ihnen und verhalte mich ganz souverän und natürlich. Ein Leben ohne Sozialphobie.

undjetzterst: Sozialphobie?

Julai: Ja. Also naja, so ganz habe ich die Kriterien nicht erfüllt, aber es war definitiv eine starke Angst in sozialen Situationen. Und das hatte ich im Übrigen mein Leben lang schon! Stell dir vor! Schon in der Grundschule war mir das bewusst, da habe ich das innerlich „Soziale Probleme“ genannt, ich wusste, dass ich anders war, und damals habe ich mir fest vorgenommen, daran zu arbeiten. So viel Überwindung mein Leben lang! So viel Enttäuschung, wenn selbst zwei Jahre Therapie nichts bringen! Und dann kommt Medikament A und ich habe nicht mehr diese Gedanken in Gesprächen… es ist unglaublich. UN-GLAUB-LICH… Auf einmal ist es so einfach! Ich habe so viel Energie für soziale Dinge! Ich bekomme auf einmal ein Gefühl dafür, wie andere Leute soziale Situationen erleben, die nicht damit aufgewachsen sind.

undjetzterst: Okay, krass. Aber mach mal nicht allzu viel Werbung dafür, das kommt nicht so gut…

Julai: Schon klar, ich meine, ohne Therapie und positive Selbstinstruktionen wäre ich wohl auch nicht so weit gekommen. Ich finde es jedenfalls ganz extrem verblüffend, wie so eine Substanz entwickelt wurde, die genau auf meine Symptome passt, und wie ich sie einfach mal verschrieben bekomme. Andere probieren sich durch zwanzig Medikamente durch, weil die Ärzte selber etwas ratlos sind. Das heißt, dass ich ganz extremes Glück hatte.

undjetzterst: Aber gibt es gar keine Nebenwirkungen?

Julai: Doch! Und das macht das Ganze auch zu einem riesigen Dilemma. Beziehungsweise… (denkt nach) Es gibt zwei Arten von Nebenwirkungen. Einmal die, die in der Packungsbeilage stehen, und einmal die Meta-Nebenwirkungen. Die, die in der Packungsbeilage stehen, sind z.B. Veränderungen im Hormonhaushalt – das lässt sich mit einem pflanzlichen Mittel aber gut kontrollieren – und sowas wie Hyperaktivität oder innere Unruhe. Letzteres ist sehr, sehr störend! Ich habe doch vorhin gesagt, in prä-A-Zeit war ich sehr ruhig. Ich konnte stundenlang in Dingen versinken; z.B. habe ich im Zug, wenn es regnete, einfach nur die Regentropfen auf der Fensterscheibe betrachtet, wie sie am Glas entlangfließen und ineinander verschmelzen. Das reichte mir, damit war ich glücklich. Ich brauchte nicht viel Stimulation – mein Kopf war mir quasi Unterhaltung genug. Jetzt ist das so anders – ich suche mehr Stimulation, ich bin schneller gelangweilt und unterstimuliert, ich kann nicht in einer Sache versinken – ich kann ja kaum noch ein Buch lesen, außer es ist sehr spannend! Das ist sehr frustrierend, wirklich. Ich mochte diese Eigenschaft von mir, dass ich nicht viel Stimulation brauche.

undjetzterst: Das ist sehr verständlich. Aber was sind die Meta-Nebenwirkungen, die du genannt hast?

Julai: Lass mich das an einem Traum illustrieren, den ich letztens hatte. Ich habe geträumt, dass mir aus irgendeinem Grund die Füße amputiert werden und dass ich Fuß-Prothesen bekomme. Diese Fußprothesen sahen relativ echt aus, wie wenn man meinen Fuß aus Latex nachgebildet hätte. Ich konnte damit auch ganz passabel laufen. Nun kann ich mich aber noch gut an meine Gedanken in diesem Traum erinnern: Einerseits war ich sehr traurig, denn diese Prothesen waren nicht meine echten, eigenen Füße. Ich hatte sie verloren – und zwar für immer. Andererseits musste ich zwangsläufig sehr dankbar sein für diese Prothesen. Denn ohne sie hätte ich nicht laufen können, sondern wäre an den Rollstuhl gebunden gewesen! Und mit Medikament A ist es ähnlich. Es nimmt mir meine eigene, echte Persönlichkeit, und ich bin darüber traurig, denn ich vermisse sie. Gleichzeitig muss ich dankbar sein für das Medikament, weil ich ohne es nicht in der Gesellschaft funktionieren könnte. Ich könnte vielleicht nicht studieren und vielleicht nicht meinen Alltag so gut selber organisieren. Oft kommt dieses Dilemma hoch, und dann würde ich am liebsten Medikament A absetzen. Aber es funktioniert nicht. Es geht einfach nicht. Nicht, wenn ich das Leben führen will, für das ich mich entschieden habe.

undjetzterst: Das ist sehr traurig, Julai! Jetzt hast du mir gleichzeitig begeistert vorgeschwärmt und warst voller Freude, und schon geht es nahtlos über in eine große Trauer.

Julai: Die Paradoxa und Wiedersprüche, da haben wir sie wieder. Ich sag dir, es ist so seltsam, und ich kenne keinen, der etwas Vergleichbares erlebt hat.

undjetzterst: Gibt es auch etwas, das geblieben ist?

Julai: Hm… ein wenig vielleicht? Meine Vorlieben haben sich geändert – sogar mein Musikgeschmack ist durch Medikament A anders – aber meine Werte und Interessen sind größtenteils geblieben. Und ich glaube, ich bin immer noch ein wenig exzentrisch. Nicht ansatzweise so stark wie prä-A, aber ein wenig schon. Das ist aber auch ein starker Effekt von Medikament A: Es macht einen irgendwie normal. Weniger weird. Ich fühle mich hin und wieder fast schon total spießig und langweilig – es hat mir meine Kreativität genommen. Ich male und zeichne auch kaum noch.

undjetzterst: Was tust du stattdessen?

Julai: Ich bin produktiv… und denke nach über die Seltsamkeit der Persönlichkeitsveränderung.

undjetzterst: Gut… dann will ich dir danken, liebe Julai, und mit einem Zitat des Psychiaters Ludger Tebarzt van Elst abschließen:

Eine Persönlichkeit haben wir alle, von früh an, sei sie autistisch oder holistisch, primär oder sekundär verursacht, angeboren oder erworben, gesund oder krank. Sie ist ein psychobiologisches Faktum, die innere Umwelt unseres Geistes, unser Gefängnis, aber auch das Instrument, mit dem wir die Melodie unseres Lebens spielen werden – ob wir es wollen oder nicht.

Van Elst, L. T. (2018). Autismus und ADHS: zwischen Normvariante, Persönlichkeitsstörung und neuropsychiatrischer Krankheit. Kohlhammer Verlag.