(Verfasst von einer Noch-Nicht-Psychologin; enthält möglicherweise gefährliches Halbwissen :D)
In Selbsthilfegruppen und in der Ratgeberliteratur scheint der Begriff Hochsensibilität sehr geläufig zu sein. Mein Psychiater hat mir diese „Diagnose“ gegeben und nun ja, dass ich in irgendeiner Form abstrus sensibel bin, wird wohl allen auffallen, die mich näher kennen. Allerdings habe ich so meine Probleme mit dem Begriff – auf verschiedenen Ebenen. Besser gesagt, ich hatte Probleme damit, mittlerweile akzeptiere ich dieses Konzept mehr. Die Probleme sind dreierlei: Einmal, dass mich die Konnotation stört. „Sensibel“ klingt, als könnte man nichts ab, als wäre man ein rohes Ei. Für mich ist das eine eher negative Konnotation und ich will mich auch nicht so sehen. Ich kann auch mal bei Ende Gelände dabei sein oder verrückte verpeilte Reisen machen und mir beim Erde schaufeln Blasen und schmutzige Hände holen. Ich will mich nicht nur vor der Welt schützen und mit ner Tasse Tee in der Hand und in eine Fleecedecke gehüllt meine Sinne entlasten, es darf auch mal ein Kompostklo auf dem Klimacamp sein. Es kann gut sein, dass der Begriff überhaupt nicht so gemeint ist, aber das sind so meine Assoziationen bei dem Wort „Sensibel“.
Zweites Problem: Der Begriff ist mir irgendwie zu harmlos. Das kann man jetzt nur verstehen, wenn ich etwas über mein suboptimales dopaminerges System aushole, was ich an dieser Stelle nicht tun möchte… Jedenfalls, was ich meinem Psychiater versuchte zu erklären, es ist nicht nur „sensibel“, wenn man durch einen Film eine Art Nervenzusammenbruch bekommt, es ist nicht nur „sensibel“, wenn man wegen lauter Geräusche im Zug um sich schlägt, bis Leute einen für verrückt halten – es ist irgendwie, wenn, dann „krankhaft sensibel“. Soweit ich weiß, gibt es dafür keine richtige Diagnose, aber ich habe da so eine Theorie, dass man das (für manche Fälle) unter die Schizotypie subsumieren kann – so sensibel, dass man irgendwie von der Realität durchdreht und sich bizarr verhält. Ich verstehe es also durchaus als ein Spektrum: Auf einer Seite die Leute, die alles abkönnen und die unberührt bleiben durch Reize und emotionale Inhalte, auf der anderen Seite – möglicherweise, Schizotypie. Vielleicht, ganz vielleicht. Sind nur meine persönlichen Überlegungen.
Nun ja, der dritte Kritikpunkt an „Hochsensibilität“ ist: Ist das überhaupt ein wissenschaftliches Konzept? Gibt es eine klare Definition? Wie sieht es mit der Konstruktvalidität aus? Ich habe mal in der Datenbank nachgeschaut, es gibt schon ein paar Artikel dazu, aber nicht soo viele. Vor allem gibt es eine „Highly Sensitive Person Scale“1. Und deren psychometrische Eigenschaften werde ich mir jetzt durchlesen, yeah!
Ah ja. Ein seltsames paper (Sooo lang! Aaaah). Es geht viel um Introversion-Extroversion. Es scheint eine Menge Evidenz dafür zu geben, dass Introvertierte auch heftiger auf Stimuli reagieren. So scheinen sie sensibler für auf geringe auditorische Stimulation zu sein, aber auch für Schmerz, visuelle und olfaktorische Reize. Wobei die Sinnesorgane an sich nicht anders funktionieren, es geht um die weitere Verarbeitung.
Hängt denn beides zwangsläufig miteinander zusammen? Handelt es sich um zwei Manifestationen derselben latenten Eigenschaft? Ich bin da skeptisch. Ich denke, es gibt ebenso abgebrühte, „unsensible“ Introvertierte und sensible Extrovertierte. Zumindest, was erstere angeht, bin ich mir relativ sicher. Ich glaube, Sozialverhalten und sensorische Verarbeitung müsste man trennen können… Andererseits ist es irgendwie logisch: Brauche ich viel Stimulation, gehe ich unter Menschen, denn sie bieten Stimulation ohne Ende. Habe ich eher eine geringe Schwelle für Stimulation, bleibe ich eher alleine – macht Sinn. Und siehe da, die Statistik ergab: Introversion und Hochsensibilität teilen zwar Varianz (hängen also zusammen) – aber sie sind nicht das Gleiche. Die Korrelation ist so um die 0.54, also recht deutlich, aber lange nicht perfekt (Korrelation von 1 = perfekter Zusammenhang). Bei Emotionalität ist das genauso. Auch ist Sensibilität nicht einfach Introversion und Emotionalität kombiniert. Vielleicht haben wir also mit diesem Begriff nicht das Rad neu erfunden, sondern etwas Einzigartiges gefunden, das einen eigenen Erklärungswert besitzt.
Existiert ein Konstrukt allein schon, wenn ich einen Test dafür entwickelt habe? Vielleicht kommt es darauf an, wie man das Verhältnis zwischen Konstrukt und Test auffasst. Ein latentes Merkmal wie Hochsensibilität (unser Konstrukt) ist nicht direkt beobachtbar, es braucht Indikatoren. Indikatoren können zum Beispiel Antworten in einem Fragebogen sein. Wenn viele Fragen gestellt werden und man merkt, dass die Antworten auf viele der Fragen systematisch zusammenhängen, bedeutet das wohl, dass es etwas Dahinterliegendes gibt, das diesen Zusammenhang erklärt – die latente Variable bzw. unser Konstrukt. Dieses Etwas, das systematisch erklärt, warum viele Menschen z.B. auf die Frage „ich fühle mich von Geräuschen schnell gestört“ und die Frage „ich ziehe mich häufig zurück, um mich zu erholen“ gleich antworten, kann man mit Statistik extrahieren – das nennt man Faktorenanalyse und das „Etwas“ einen Faktor. Aber, wichtig zu wissen: Das ist nur Mathe, das erklärt nicht, ob wir tatsächlich messen, was wir messen wollen! Dieses Etwas, das Zusammenhänge zwischen Antworten herstellt – der Faktor – könnte, in unserem Fall, die Hochsensibilität sein. Aber die reine Statistik sagt uns das nicht. Welche Fragen im Fragebogen hängen denn am meisten mit dem Faktor zusammen? Sind diese Fragen auch die, von denen ich erwarte, dass sie stark mit Hochsensibilität zusammenhängen? Oder habe ich aus Versehen etwas anderes gemessen? Konstruktdefinition ist nun einmal entscheidend.
Und hier schließt sich ein Kreis: Verstehe ich dasselbe unter Hochsensibilität wie andere? Versteht die Wissenschaft dasselbe darunter wie die Ratgeberliteratur und die Hobbypsychologen?
Hier ist es aufschlussreich, sich mal die Fragen genauer anzuschauen, aus denen der Fragebogen, die „Highly Sensitive Person Scale“, besteht.
Die Fragen, die am höchsten mit dem Faktor zusammenhängen, den man gefunden hat, sind diese (übersetzt mit DeepL):
- „Müssen Sie sich an anstrengenden Tagen ins Bett oder in einen abgedunkelten Raum oder an einen Ort zurückziehen, wo Sie etwas Privatsphäre haben und sich von der Stimulation erholen können?“
- „Werden Sie leicht von Dingen wie hellen Lichtern, starken Gerüchen, groben Stoffen oder Sirenen in Ihrer Nähe überwältigt?“
- „Sind Sie verunsichert, wenn Sie in kurzer Zeit viel zu tun haben?“
- „Erschüttern Sie Veränderungen in Ihrem Leben?“
- „Finden Sie es unangenehm, wenn viel auf einmal los ist?“
- „Stören Sie sich an intensiven Reizen, wie lauten Geräuschen oder chaotischen Szenen?“
Ich finde, diese Fragen passen erstaunlich gut zu meinem eigenen Konzept von Hochsensibilität.
Für mich spielen nämlich nicht nur die rein sensorischen Anteile eine Rolle. So wie ich das aus der Literatur mitbekommen habe, ist der Fokus bei der Definition oft die verstärkte Reaktion auf Sinnesreize. In diesem Paper wird die ganze Zeit von sensory processing sensitivity gesprochen. Auch in diesen Fragen wird das deutlich: Licht, Gerüche, Geräusche, das hat alles mit ganz basaler Wahrnehmung zu tun. Aber Hochsensibilität ist viel mehr als das, und die Autoren scheinen das auch zu wissen, wenn man sich die Formulierung der Fragen ansieht. Was haben Veränderungen im Leben mit basaler Wahrnehmung von Licht und Geräuschen zu tun? Oder bedeutet „sensory“ in diesem Artikel etwas anderes, als wie ich es im Moment verstehe? Ich zumindest habe den spontanen Eindruck, dass so etwas wie Veränderungen im Leben ganz andere Ebenen betrifft, als eine Aversion gegen Helligkeit oder Lärm. Aber vielleicht auch nicht? Vielleicht sind es dieselben neuronalen Mechanismen, die die Sensibilität in dem einen wie dem anderen erklären. Und dennoch: Wenn es für das Eine ein Wort gibt – Reizempfindlichkeit – was ist dann das Wort für das komplementäre Etwas, das auch zu Hochsensibilität dazugehört? „Leichtes Überwältigtsein von Ereignissen“? Inwiefern haben Sinnesreize etwas mit „chaotischen Szenen“ oder anderer Stimulation zu tun, dass Hochsensible auf beides anders reagieren als Nicht-Hochsensible? Was ist das Gemeinsame in diesen Situationen? Fragen über Fragen, die die Autoren entweder nicht erklärt haben, oder sie haben es doch erklärt, aber ich konnte mich beim Lesen nicht konzentrieren, weil das so viel Geschwafel war…
Dieses Paper ist schon ziemlich alt und das Einzige, zu dessen einigermaßen vollständiger Lektüre ich mich für diesen Beitrag überwinden konnte. Mal kurz in der Datenbank geschmökert: Andere Autoren gehen das Thema natürlich anders an. Smolewska et al. (2006) haben zum Beispiel diesen Fragebogen reanalysiert und nicht einen, sondern drei Faktoren gefunden. So ist das in der Welt der Psychologie: Da denkt man, man weiß, was etwas ist, und dann kommt eine neue Studie und sagt: Das gibt es gar nicht, oder das ist doch anders aufgebaut, als du dachtest… seufz.
Wie beantworte ich jetzt die Frage, ob Hochsensibilität ein wissenschaftliches Konzept ist? Ich glaube, es läuft darauf hinaus: Wissenschaftler beschäftigen sich damit – aber das muss nicht zwangsläufig heißen, dass das Ganze das ist, wofür wir es halten, oder dass es eine abschließende Definition gibt. Ich habe leider auch nicht wirklich neurowissenschaftliche Studien gefunden, die das Konzept auch biologisch validieren könnten, und keinen anderen Fragebogen außer diesen hier. Immerhin ist das Ganze aber nicht aus der Luft gegriffen. Man könnte sagen, es wurde sogar repliziert: Schon einer der Pioniere der Persönlichkeitspsychologie, Raymond Cattell, hat in den 60ern nach einer Riesen-Faktorenanalyse einen Faktor Sensibilität, als einen von 16 Persönlichkeitseigenschaften, gefunden.
Auch muss ich sagen, dass das Konzept nützlich ist; mein Psychiater findet das anscheinend, und viele Menschen können damit auch etwas für sich anfangen. Und Nützlichkeit ist tatsächlich ein Kriterium für gute psychologische Theorien.
Um mit einem Klassiker abzuschließen: Further research is needed. 🙂
1 Aron, E. N., & Aron, A. (1997). Sensory-processing sensitivity and its relation to introversion and emotionality. Journal of personality and social psychology, 73(2), 345.
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