„Ist dir schon einmal bewusst geworden, dass wir in der Zukunft leben?“ sprach Julai in den nasskalten Herbsttag hinein. Lian saß neben ihr und hatte seine Hände schüchtern unter seine Beine gesteckt. Vielleicht war ihm auch kalt.
„Wir leben in der Gegenwart“, antwortete er.

Sie rauchten zu zweit eine Tüte, gefüllt mit Himbeerblättern. Das war Julais Idee gewesen. Sie zog daran und stieß mit leicht angewidertem Gesicht den Rauch aus. Dann gab sie sie an Lian weiter.

„Ich war heute beim Zahnarzt, da ist mir der Gedanke zum vermutlich 76. Mal gekommen. Die Zahnärztin war schon etwas älter und hat aber mit den abgefahrensten Gerätschaften hantiert. Ich hatte keine Ahnung, was sie da macht. Alles war irre effizient, ihre Arbeitsteilung mit der Arzthelferin, irgendwie ja auch nichts Besonderes, würde jeder Zahnarzt sagen, aber überleg doch mal. Ich gehe hin, ich lasse mir mit moderner Technik die Zähne reinigen und auffüllen und keine Ahnung was, ich muss mir darum nicht den geringsten Gedanken machen. Das ist dermaßen Science-Fiction.“

„Science-Fiction würde ich es noch nicht nennen, aber du hast schon recht, von außen betrachtet ist das ein merkwürdiges System.“ Lian schien ernsthaft darüber nachzudenken. In der Ferne rauschten die Blätter der Bäume, gelb regneten sie zu Boden. Während er mit zweifelndem Blick die Tüte mit den Himbeerblättern musterte, fuhr Julai fort.

„Ich denke das häufig. Wenn ich Apps benutze auf dem Smartphone. Das ist so krass. So abgefahren. Aber die meisten wundern sich da gar nicht drüber. Ich verstehe das nicht.“

Lian stimmte ihr zu. Auch er verstand nicht, wie ein Smartphone funktionierte. Der Wikipedia-Artikel über Leiterplatten half auch nicht. Wo genau war dieser Übergang zwischen Hardware und Software? Selbst einen ordinären Digitalwecker verstand er nicht. Der Wecker zeigte Zahlen. Aber woher kamen diese Zahlen? Dabei war das noch eine vergleichsweise simple Angelegenheit, im Vergleich zu einem Vierkernprozessor, stellte er sich vor.

Julai war schon wieder mit dem Kopf woanders. Eine Erinnerung hatte sie eingeholt. 2015 war sie 18 Jahre alt gewesen. Damals war einiges passiert. Es hatte zum Beispiel diese Klimakonferenz in Paris gegeben. Zwei Jahre später hatte sie dazu einen Film gesehen, einen Dokumentarfilm. Sie fand diesen Film grausam. Warum eigentlich nochmal, was hatte der Film gezeigt? Der Fokus hatte auf einer Frau gelegen, die irgendwie bemüht war, die Bedürfnisse der Leute dort zusammenzuführen, irgendwie hatten sie im Film ja eine Story erzählen müssen. Blödsinn, warum muss es immer eine Story sein, Julai interessierten die nackten Fakten. Das wäre zumindest leichter auszuhalten gewesen. Außerdem war diese Konferenz real gewesen. Keine fiktive Geschichte. Deshalb war sie auch zusammengebrochen.

Diese ihre eigene Reaktion war es, die Julai verblüffte. Sie war aus dem Kino gegangen und nach Hause gefahren, vermutlich mit dem Bus. Es war schon dunkel. Aber dann, etwa 200 Meter vor der Eingangstür ihrer Wohnung, hatten ihre Gefühle sie überwältigt und sie war auf den schmalen Gehweg hinter dem Supermarkt auf den Boden gesunken. Sie konnte weder vor noch zurück, ihre Selbstkontrolle setzte aus. Es war, als hätte sich ihr Betriebssystem aufgehängt, es gab zu viel Input und sie konnte ihn nicht verarbeiten. Ihr Körper hatte das Notprogramm gestartet und ihr Gehirn gezwungen, in einen anderen Modus umzuschalten, um eine Pause zu erlangen. Zumindest schien ihr eine Erklärung wie diese im Nachhinein plausibel. Sie rollte sich auf den Steinplatten des Gehwegs im dunkeln zu einem kleinen Paket zusammen und weinte. Entscheidungen treffen konnte sie nicht mehr, ihr blieb nichts anderes übrig, als sich dem Weinen hinzugeben und abzuwarten, bis sie den Weg nach Hause fortsetzen konnte. Klar denken konnte sie allerdings schon noch. Zum Beispiel dachte sie relativ nüchtern darüber nach, was wäre, wenn jetzt jemand vorbeikäme. Manchmal wollte sie in solchen Zuständen unbedingt, dass jemand ihr half. Manchmal auch nicht.

Es kam dann tatsächlich jemand. Erst lief er an ihr vorbei, dann drehte er um. Ein junger Mensch, vermutlich Student. Er hockte sich neben sie und sprach sie auf englisch an, „Can I help you?“.

Da sagte sie: „I‘m afraid of climate change“.

Was hatte er geantwortet? Julai konnte sich nicht mehr erinnern. Vielleicht etwas in der Art, dass sie sich nicht so viele Sorgen machen müsse. Aber insgeheim, und vielleicht fand sie in ihrem Gefühlswirrwar auch etwas Belustigendes daran, gefiel ihr die Vorstellung, eine so exzentrische Antwort auf die Frage zu geben, warum sie mitten auf dem Gehweg lag und heulte. Soll er doch mitbekommen, dass manche Leute in seinem Alter ehrlich verstört durch diese ganze Sache sind. Vermutlich hatte er etwas völlig anderes erwartet, here we go, ich zeig‘s dir mal, wie es um deine Vorstellung von normalen Nachbarn bestellt ist. Und um deine Vorstellung von Dingen, die einen tief aufwühlen können. Der Klimawandel gehört dazu.

Und wie war es heute? Mit ihrem heutigen Selbst und dem Thema Klima? Julai heulte nicht mehr deswegen. Aber war ihr Umgang mit der Situation zufriedenstellend? Eine Sache, an die sie immer wieder denken musste, war, dass vor allem das konkrete Handeln in der Klimakrise helfen würde. Das Machen. Das pflanzen. Das demonstrieren. Die direkte und indirekte Kommunikation mit Entscheidungsträger*innen. Der zivile Ungehorsam und die praktische Unterstützung desselben. Andere Dinge hatten keine direkte Wirkung – das waren Dinge wie Vernetzung, Lesen über Fakten und Nachrichten und Meinungen aus der Umweltszene. Sie hatte aber häufig den Eindruck, dass sie viel von letzterem und wenig von ersterem machte. Das störte sie. Sie wollte viel Effektives tun und nicht viel Ineffektives. Aber wie genau war es um dieses Verhältnis bestellt und was konnte sie an ihren Aktivitäten noch feilen?

Julai trat, die Himmbeerblatt-Tüte über ihre Schulter in die herbstliche Szenerie schnipsend, durch ein blau schimmerndes Portal in ein Paralleluniversum und nahm die Identität der Autorin an. Lian glotzte ihr stumm hinterher, hätte er doch sein Smartphone gezückt und ein Foto gemacht! Aber als er es aus seinem Rucksack gefischt hatte, war das Portal verschwunden.

Also, ja. Moment. Genau.

Ich habe tatsächlich den Eindruck, ich würde gerne mehr machen. Aber den Eindruck habe ich vermutlich auch, weil ich gerade sehr intensiv Psychologie studiere. Und im Vorstand der Initiative Psychologie im Umweltschutz regelmäßig planende Aufgaben habe. Das sind alles Dinge, die sind eher nicht Praxis, die sind eher Theorie. Aber für Praxis fehlt mir dadurch häufig die Zeit.
Kurz, ich habe einen Anspruch, einen Glauben, eine „soll“-Botschaft an mich selbst, ich möge doch gewisse Dinge tun, denn sonst fühle ich mich angesichts der Klimakrise nicht gut. Tue ich sowieso nicht, aber der Gedanke, nicht an der Lösung zu arbeiten, ist extrem unangenehm. Und ich finde meinen Anspruch gerechtfertigt, solange es sich um Aktivismus handelt, der die eigenen Bedürfnisse nicht untergräbt. Erzähl mir nix von Self-Care, ich weiß das schon.

Ich glaube, wären die Umstände nur ein klein wenig anders gewesen, wäre ich ein tief religiöser Mensch geworden. Religion bedeutet nicht nur Glaube, es bedeutet auch Praxis. Symbole und Gemeinschaft. Rituale und Verhaltensregeln. Ich mag es irgendwie, mich nach Regeln zu verhalten, meine Verhaltensoptionen einzuschränken, vermute ich jedenfalls. Das ist mir aufgefallen, als ich Haferflocken kaufen wollte: Rein von der Ökobilanz ist es schon eher relativ egal, ob ich die in Papier verpackten Flocken oder die aus dem Unverpacktladen kaufe. Aber ich wollte mir selbst die Entscheidung abnehmen und ertappte mich bei dem Gedanken: Ich gehe einfach immer Haferflocken im Unverpacktladen kaufen. Ich habe den Haferflockenbehälter, ich habe ein Ritual. Ich will mich nicht ständig umentscheiden; ich denke, dieses Verhalten macht Sinn. Es ist sozusagen mehr symbolisch: Ich vermeide eine Verpackung, weil ich alles an Verpackung vermeiden möchte, was geht, und mache mir über die einzelne Sinnhaftigkeit der Handlung weniger Gedanken. Denn es geht ums Prinzip: Alles was eingespart werden kann, wird eingespart, auch wenn es eine kleine Sache ist.

Umweltschutz gibt mir Halt, Orientierung, Moral. Wie Religion. Statt jeden Tag einer guten Tat und Nächstenliebe sind es strikte Regeln zum Konsumverhalten, zur Ernährung, aber auch zum Umgang mit Umweltproblemen. Wie wenn man sich in der religiösen Gemeinschaft engagiert, engagiere ich mich in Umweltverbänden, die zu einem gewissen Grad ihre eigene Symbolik und Sprache haben – und das macht mich glücklich. Es ist mir relativ egal, mit wem ich mich da treffe und Plena abhalte; es genügt die Tatsache, dass es Ökos sind, Gläubige sozusagen. Große Versammlungen von Ökos, wo wir gemeinsam unsere Ideologie ausleben, etwa Demos und Klimacamps, machen mich auch glücklich. Wir verstehen uns als Gemeinschaft, ich kann mich frei bewegen und mit jedem reden.

Natürlich hat die Umweltbewegung auch Eigenschaften, die auf Religionen nicht zutreffen; aber das ist schwer greifbar, da die Umweltbewegung nicht homogen ist, sondern sehr divers. Manche Ökos sind sehr spirituell, andere fokussieren sich stark auf Wissenschaft. Ich stelle mir vor, wie eine Art Anthropologe von einem fremden Planeten hier hereinschneit und die ganze Sache inspiziert. Vielleicht würde er sich notieren, dass die Gruppe der Ökos vor allem durch Verhaltensregeln und durch eine besondere Einstellung zu Nichtmenschlichen Lebewesen gekennzeichnet ist. Könnte sein. Und politisch ist das Ganze tendenziell auch; das ist ja mit eine der wichtigsten Eigenschaften, könnte man sagen! Aber ich denke, es gibt auch Ökos, die nicht politisch sind. Trotzdem, das Ganze hat einfach nichts von Mystik, ist eher pragmatisch. Nicht das Gleiche, definitiv; aber vielleicht ist die Art, wie ich es auslebe, schon ein bisschen quasi-religiös? Mir macht das nichts aus, aber das Thema kitzelt den Forschergeist.

Was wollte ich mit diesem Text eigentlich ausdrücken? Vielleicht fasziniert mich einfach, dass Menschen so Dinge machen. Und ich will sie hinterfragen. Zu sehr Gruppen anzuhängen und aus rein emotionalen Motiven, nicht aus umweltschutzmäßiger Notwendigkeit radikal zu sein, kann auch ungünstig sein. Ich hab übrigens noch nie Himbeerblätter geraucht, ich dachte nur, warum sollten Lian und Julai sonst auf einer Bank sitzen. Schön blöd eigentlich.