Ich klopfte an sein Fenster. Lian kam nach einigen Sekunden und stieß die Gardinen beiseite. Er sah, dass ich es war und machte das Fenster auf. Die langen Blätter der Topfpflanzen umrahmten seine Gestalt.
„Julai?“
„Lian, ich brauche deine Hilfe. Passt es dir gerade?“
Lian runzelte die Stirn und drehte sich zu seinem Schreibtisch um.
„Heute Abend würde ich gerne noch ein bisschen lernen. Aber zwei Stunden habe ich.“
Er schob die große Avocadopflanze beiseite. Ich zog meine Sandalen aus und stieg geschwind auf die Fensterbank. Lian lächelte mich an und ich stieg hinab in sein Zimmer.
„Wie geht es dir?“, fragte ich.

„Gut, Biochemie geht voran. Ich frage mich auch seit kurzem, ob ich die Leute auf Arbeit überreden soll, ‚xier‘ zu mir zu sagen. Aber ich muss noch darüber nachdenken, ob sich das mit den ganzen Diskussionen lohnt. Oder ob ich mit ‚er‘ quasi im Alltag leben kann.“
„Warum xier?“
„Es ist ein relativ verbreitetes nichtbinäres Pronomen. Soweit ich weiß, wird es gerne genommen, wenn aus dem Englischen übersetzt wird.“
„Ah ja. Xier.“
Wir sahen einander an.
„Und was gibt es bei dir?“, fragte er dann.
„Degrowth“, sagte ich.

Es war Sommer. Lian und ich blickten auf eine Fülle an Erinnerungen an Abende am See zurück, wie wir gelacht hatten, als die Schafherde unseren Weg versperrt hatte, wie die Fledermäuse abends unsere Köpfe umschwirrt hatten und wir im Feld jedes Mal innehielten, wenn ein Schmetterling oder eine Libelle auf einem Grashalm sitzen blieb. Lian hatte xies dunkles Haar wachsen lassen und trug es nun im Pferdeschwanz. Wir waren seit sieben Monaten zusammen.

Lians Sofa ist so gemütlich und weich. Xier hatte mich im Arm. Es war ein besonders kühler Julitag und Lians Pulli roch echt nice.
„Was gibt dir an Degrowth so zu denken? Ehrlich gesagt, kann ich mir darunter nicht so viel vorstellen“, sagte xier.
Ich fing an, ein Loch in xiesen Teppich zu starren.

„Degrowth bedeutet, dass man sich in der Wirtschaft nicht mehr am Wachstumsprinzip orientiert. Die Wirtschaft soll quasi weniger wachsen, oder schrumpfen. Das klingt für viele seltsam, glaube ich, aber es hat einen ökologischen Hintergrund. Denn grünes Wachstum kann es nicht geben. Das zeigt die Empirie. Man hat Modellrechnungen gemacht; selbst wenn alle Länder auf der Welt mit Ressourcen so umgehen, wie die vorbildlichsten Länder es tun, steigt der Ressourcenverbrauch dennoch Jahr für Jahr. Die Idee ist ja eigentlich, dass das Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden kann. Aber das geht nicht, sie wachsen miteinander. Vielleicht wächst unter den optimalen Bedingungen nur der Ressourcenverbrauch weniger schnell als die Wirtschaft. Aber wohin soll dieses Wachstum noch führen? Das macht mir Angst.“

Lian streichelte meinen Arm und starrte nachdenklich ein weiteres Loch in den Teppich. Wenn mensch wirklich Löcher starren könnte, wäre das praktisch oder unpraktisch, je nachdem wie gut sich diese Fähigkeit kontrollieren ließe, schoss es mir durch den Kopf.

Xier erwiderte dann: „Und Degrowth heißt dann, den Ressoucenverbrauch zu senken, und das ist mit Wirtschaftswachstum nicht vereinbar, kann man das sagen?“
Und ich sagte: „Ich denke schon. Aber es gehört ja noch das ‚wie‘ dazu. Es geht darum, gute Lebensbedingungen für alle zu schaffen, ohne die Natur so auszubeuten, dass es in einem Artensterben und science-fiction-artigen Klimaveränderungen resultiert. Ich lese gerade ein Buch darüber. Bisher bin ich bei dem ‚warum‘ des Degrowth angekommen, aber nicht beim ‚wie‘. Darum habe ich auch solche Angst bekommen. Die Hälfte des Buches, die ich gelesen habe, handelt von all dem, was schlecht läuft. Wie Kapitalismus die Menschen schon vor Jahrhunderten unglücklich gemacht und teilweise den Lebensstandard der Durchschnittsmenschen stark reduziert hat. Wie verrückt es ist, anzunehmen, dass Klimamodelle einfach weniger drastisch gemacht werden können, indem man annimmt, dass CO2 in großem Stil aus der Luft gefiltert werden kann. Klimamodelle sind ohnehin gruselig.“
„Um welches Buch geht es?“, fragte Lian.
„‚Less is More’ heißt es, von Jason Hickel. Ich hatte irgendwo was davon gehört und Degrowth interessiert mich eh schon so lange. Ich kann mir nur die Argumente dafür nicht merken, auch wenn ich sie schon so oft gehört habe. Das ist echt doof, denn ich würde gerne mehr darüber diskutieren.“

Lian ließ sich das durch den Kopf gehen, während xier meinen Kopf streichelte. Mein Gehirn war darin, und xier hatte schon oft zu hören bekommen, dass ich mir nix merken konnte. Mein Gedächtnis ist gleichsam eine Rumpelkammer: Irgendwo ist alles. Aber wenn ich hingehe und etwas suche, finde ich lauter unnützes Zeug und nicht das, was ich eigentlich haben wollte. Resigniert stelle ich oft das Suchen ein.
„Wie stellst du dir solche Diskussionen denn vor?“, fragte Lian mich.
„Naja“, sagte ich, „die meisten Menschen haben den Wachstumsgedanken tief verinnerlicht. Wachstum wird instinktiv als etwas Gutes angesehen. In vielen Bereichen im Alltag ist das so. Es wäre also gut, einen Instinkt dafür zu schaffen, dass es nicht gut ist, sich wirtschaftlich nur am Wachstum zu orientieren. Früher war das vielleicht gut, weil Wachstum einen Zweck hatte, nämlich Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen. Heute ist das zwar das Argument, aber eigentlich geht es darum, das Wirtschaftssystem aufrecht zu erhalten. Wachstum ist nur noch Selbstzweck. So habe ich das zumindest verstanden. Ich meine, viel Ahnung habe ich davon nicht. Aber, ja. Es geht um das gute Leben. Und ökologische Desaster bildet weder das BIP ab noch lassen sie sich mit dem starken Fokus auf Wachstum verhindern. Ich fand die Argumente dafür echt plausibel. Ich meine, das kann ja auch confirmation bias sein. Wie alles. Aber ich hoffe du verstehst, was ich meine.“

Lian lächelte. „Dass es nicht darum geht, quasi in die Steinzeit zurückzukehren. Ja, das verstehe ich. Und ich denke, du willst damit auch sagen, dass es an der Zeit ist, etwas zu ändern. Weil es langfristig das Rationalste ist.“
„… und weil wir mehr aus den verfügbaren Ressourcen herausholen, wenn wir weniger unnütz konsumieren und Anreize anders setzen. Es ist nicht rückwärtsgewandt oder idealistisch überzogen, sondern einfach das Vernünftigste, was man mitten im Anthropozän machen kann. Ich will einfach eine schöne Zukunft und eine intakte Erde. Keinen endlosen Fortschritt und kein endlos wachsendes BIP, das in keinster Weise abbildet, ob unsere Leben gute Leben sind.“
Ich merkte, dass mich die Emotionen einholten, und wandte den Blick ab.
Lian sah mich an. „Hmm. Ich glaube, ich kann das nachvollziehen. Und klar, der confirmation bias. Den gibt’s immer. Nun, wenigstens berufst du dich, wenn du für was argumentierst, auf empirische Daten. Du bist meistens ein sehr rationaler Mensch.“
„Aber der confirmation bias ist die mächtigste kognitive Verzerrung!“

Lian grinste. „Stimmt. Weißt du was, das mit der Wachstumskritik klingt interessant, aber ich glaube, ich muss mich da etwas mit den Basics beschäftigen, um mir selber ein Bild zu machen. Und was ist eigentlich das Anthropozän?“

Ich möchte mich mehr mit Degrowth beschäftigen. Die Argumente lernen – wenn nötig, mache ich mir Karteikarten – und mit Menschen darüber ins Gespräch kommen. Degrowth lässt sich in individuellen Entscheidungen, als Suffizienz, umsetzen. Es braucht aber auch über private Entscheidungen hinaus eine andere Story vom Wohlstand und dem guten Leben. Wieviele Menschen reden bereits darüber? Wer handelt bereits auf Basis dessen? Welche Unternehmen gibt es, die bereits bewusst auf Wachstum verzichten?

Xier half mir, meine Angst zu lindern. Tat alles, um mir Geborgenheit zu verschaffen. Versprach, dass es die Umweltbewegung immer geben werde. Sagte, was ein guter Mensch ich sei, dass ich mich einsetzen würde für den einzigen Planeten, auf dem es veganen Vanillejoghurt, guten Electro und Katzen gibt. Lian küsste mich und drückte mich zum Abschied fest an sich. Wann immer ich jemanden zum Reden brauche, xier sei da.

Die Nacht war kühl, Lian hatte mir xiese Jacke gegeben. In der Jacke klimperte etwas. Ich fuhr mit der linken Hand in die klimpernde Tasche und holte eines der metallenen Knobelspiele heraus, die Lian so mochte. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, setzte ich mich auf einen großen Stein am Ende der vollkommen stillen Straße. Ich befingerte das Objekt, das im Licht der Straßenlaterne glitzerte. Mir schien es ganz und gar verknotet zu sein, unmöglich, es auseinanderzudröseln. Ich spielte damit herum, verschob die Einzelteile immer wieder und suchte nach Kombinationen, die ich noch nicht ausprobiert hatte. Je länger ich dort saß, desto mehr schienen sich auch meine Gedanken zu verknoten, meine Geduld neigte sich dem Ende zu und ich wurde in meinen Bewegungen fahriger. War ich wirklich intelligent genug, um all die komplexen Zusammenhänge in der Gesellschaft zu verstehen? Und was wurde bloß aus der Welt, wie ich sie kannte?
Mit einem hellen Klirren fiel das Knobelspiel auf den Boden. Ich weinte alleine und wusste nicht einmal, warum.