Würde Kant Saatgut aussäen und Karotten ernten? Ich stelle mir diese Frage, weil Kant zufolge Wesen nicht bloß als Mittel gebraucht werden sollen, wenn wir ihre Würde bewahren wollen. Demzufolge achten wir die Würde der Karotte nicht – für uns ist die ein bloßes Objekt, wenn wir sie mit der reinen Intention aussäen, sie später zu ernten und zu konsumieren, und sie für uns außerhalb ihres Zweckes nicht relevant ist, nicht „nur für sich selbst“ existieren kann.

Natürlich ist das Beispiel ein bisschen Quark, weil sich Kant in seinen Ausführungen eher auf vernunftbegabte Wesen bezieht, und zwar etwas zum Umgang mit Tieren schreibt (worauf ich nicht eingehen möchte, hier kann man nachlesen), aber bei Pflanzen hört es doch auf, nicht wahr?

Nun bin ich ja ein Mensch der Umweltbewegung – und gerne im Gemeinschaftsgarten aktiv. Und ich habe so den Eindruck, dass es hier Überschneidungen gibt, dass sich hier Themenfelder zusammenführen lassen.

Dieses Ding mit dem Selbstzweck – Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest… (aus „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“)

Das finde ich interessant, denn man kann es (keine Ahnung ob das legit ist, aber mal so als Experiment) auf alles Mögliche ausdehnen. Und mir fällt sofort ein Argument aus der Umweltbewegung ein, eine Prämisse sozusagen: Die Natur ist um sich selbst willen schützenswert, einfach weil sie da ist. Nicht weil wir Menschen sie brauchen, sondern weil Biodiversität an sich wertvoll ist. Wenn man nicht so denkt, macht Naturschutz zum Beispiel oft keinen Sinn – warum sollte ich bedrohten Wurm xy schützen, wenn sich aus ihm kein Geld machen lässt und er nicht meine Seele erfreut, wenn ich auf ihn blicke? Nun, der Wurm ist eben nicht nur ein Mittel zum Zweck, er ist auch für sich selbst da! Ich finde das ziemlich überzeugend.

Zurück zum Karottenbeispiel. Bei mir hat das eine Gedankenkaskade ausgelöst, die ich auch interessant finde: Menschen haben nicht immer die Natur als Zweck gebraucht. Es gab einmal eine Zeit ohne Ackerbau und Viehzucht – aber gut, die ist schon sehr lange her. Ich will auch nicht sagen, dass das, was wir heute machen, moralisch falsch ist (oder richtig). Aber die Vorstellung, wie es sein muss, nur von dem zu leben, was eben so frei herumwächst, kreucht und fleucht – das ist ein anderes Lebensgefühl, als sich alles selbst heranzuzüchten. Wie gesagt, ich will hier gar kein Sollen statuieren, sondern im Moment nur darüber nachdenken, wie sich die eine oder andere Sache subjektiv anfühlt. Und wenn ich im Wald Beeren sammle, die da zufällig wachsen, ist das schon anders, als wenn ich selbst angepflanzte und gezüchtete Beeren aus dem Garten sammle. Der erstere Beerenstrauch ist irgendwie frei, wild, und nur für sich selbst da. Gleichzeitig muss ich mich als Mensch unterordnen, ich habe wenig Kontrolle wo und wie der Strauch überhaupt wächst und muss mir die Beeren mit anderen Tieren teilen.

Das mit der Kontrolle berührt sicher auch große Themen, die groß diskutiert werden, bla und blub: Ist es moralisch richtig, so viel Kontrolle über die Natur zu erlangen? Gibt es irgendwo eine Grenze? Was würde Kant sagen? Hat er schon etwas gesagt? Weißt du es und kannst mir einen Tipp geben?

Karotten anbauen ist ja noch harmlos, könnte man sagen, aber was ist mit extrem spezifisch gezüchteten Tieren, die geradezu am Fließband „verarbeitet“ werden? Zumindest subjektiv wird eine Grenze der Moral überschritten – aber was macht diese Grenze aus? Welche Form hat sie, und warum scheint sie bei Menschen unterschiedliche Gestalt zu haben?

Wenn man Massentierhaltung einmal beiseite nimmt, ist das mit der Kontrolle ist ja oft eher eine Einstellung, bei der sich Menschen wie in einem Spektrum zwischen Extremen verteilen. Kontrolle über andere Wesen ist dabei die eine Sache, Kontrolle über die Natur im Sinne von Biologie dann wiederum eine andere. Auch da gibt es schließlich Menschen, die die Anwendung neuartiger medizinischer Technologien beim Menschen ablehnen, weil die Kontrolle über die Natur ihnen nicht richtig erscheint. Ich mache mir manchmal Sorgen, dass diese Menschen recht haben und ich mit meiner Begeisterung für neuartige psychiatrische Therapien (Elektroden im Gehirn können krasse Dinge bewirken!) vielleicht schon über einer unsichtbaren Grenze bin.

Bei den Karotten habe ich aber auch daran gedacht, dass man die Handlung, die die Nutzung der Natur beinhaltet, auch mit unterschiedlichen Absichten und Gedanken durchführen kann. Wenn ich im Gemeinschaftsgarten herumgehe, habe ich zumindest auch ein Gefühl, dass die Pflanzen mehr sind als nur Objekte, die ich ausnutzen will. Sie faszinieren mich und sie sind wunderschön. Sie haben ihren eigenen „Willen“ und wachsen manchmal an Orte, wo ich sie nicht hingeleitet habe. (Ist Anthropomorphismus immer etwas, das von der Natur der Dinge ablenkt? Ich weiß doch, dass das kein Wille, sondern reine Wachstumsfaktoren-Biochemie ist! Aber trotzdem!). Für mich waren Pflanzen schon immer so etwas wie Individuen. Keine Ahnung, ob ich verrückt bin oder ob das bei anderen auch so ist.

Und auch beim Töten von Tieren kann man, wenn es denn sein muss, mit einem Gefühl von Würde da herangehen statt mit einer „das Tier ist nur ein Mittel zum Zweck“-Einstellung. Andere würden das vielleicht als Ehrfurcht vor der Natur bezeichnen, ich finde die Frage nach dem Selbstzweck etwas konkreter und fassbarer.

Ich schreibe heute eine Prüfung in Praktischer Philosophie, wir haben sehr viele Philosophen durchgenommen, aus irgendeinem Grund hängt sich mein Gehirn aber gerne bei Kant auf. Auch seine Positionen, die ich nicht wirklich vertreten kann, üben eine gewisse Faszination auf mich aus. Aber gelesen habe ich Kant nicht wirklich, er hat einfach diesen Schreibstil, diesen unglaublichen Schreibstil des Todes, alter.

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