Lebhafte Träume. Lebhafte Realität. Leben. Wir haben 86 Milliarden Nervenzellen im Kopf. Fast so viele, wie die Milchstraße Sterne hat.

Was ist Traum, was ist real?
Das frage ich mich manchmal, wenn sich eine Phase der Depersonalisation-Derealisation anbahnt. Das ist so ein umständlicher Begriff, jedenfalls fällt es im Katalog psychischer Besonderheiten unter die Kategorie Dissoziation. In der Chemie ist das wohl so ein Vorgang, bei dem sich chemische Verbindungen in mehrere Moleküle oder Atome teilen. Wenn das im Kopf passiert, heißt das, dass Identität, Wahrnehmung, Bewusstsein irgendwie auseinanderfallen.

Bei Derealisation bezogen auf die Umwelt, bei Depersonalisation bezogen auf sich selbst. Klingt erstmal schwer vorstellbar. Ich finde, es ist eher so, als ob diese Funktionen des Bewusstseins nicht mehr richtig synchronisiert werden, nicht mehr nahtlos ineinandergreifen. Das führt zu ziemlich merkwürdigen Empfindungen.

Wer bin ich, wo sind die Grenzen meines Körpers? Wer spricht, wenn ich Worte aus meinem Mund kommen höre? Bin ich es? Oder ist mein Ich woanders? Schläft mein Ich vielleicht in meinem alten Kinderzimmer, während meine Seele durch ein Paralleluniversum läuft?
Das ist mein Endruck bei Derealisation, Depersonalisation.
Wenn ich mir Mühe gebe, wenn ich entspannt bin, kann ich diesen Zustand sogar interessant finden. Es ist, wie als wäre ich eine Figur in einem Computerspiel. Alle Menschen um mich herum sind Avatare, wie virtuell. Ich selbst fühle mich ein bisschen, wie als würde jemand auf kleine Tasten drücken und mich steuern (naja, so ähnlich). Meine Augen sind wie aus Glas und alles wirkt flach, zweidimensional. Sitze ich auf dem Fahrrad, fühlt es sich manchmal an, als würde jemand anders fahrradfahren. Die Welt, alles Äußere, fließt durch mich durch, berührt mich nicht. Selbst meine Gedanken und Gefühle dringen nicht zu mir durch, jede körperliche Empfindung fühlt sich ganz weit entfernt an, als würde es jemand anders erleben. Dissoziation.

Ich denke in solchen Momenten manchmal ernsthaft darüber nach, ob ich nicht irgendwie eingeschlafen bin und angefangen habe zu träumen. Es fühlt sich zumindest an wie ein Traum. Ich höre mich reden, während ich mich durch Menschenmassen navigiere, höre mich zusammenhangloses Zeug sagen, und weil alles so weit entfernt scheint, interessiert es mich fast gar nicht, ob jemand mir zuhört. Ich rede einfach vor mich hin und komme mir ganz schön verrückt vor. Es ist für mich ganz wichtig zu wissen, dass ich nicht wirklich verrückt werde. Ich kann ja Traum und Realität noch auseinanderhalten. Aber manchmal ist es kein wirklich entspannter Traum, durch den ich da wandle. Manchmal ist es ein Alptraum. Die Menschen wirken nicht nur virtuell, sie wirken grotesk – und alles Äußere, alles was ich betrachte, scheint formlos, scheint falsch, alle Gegenstände sind irgendwie abartig, missgeformt, verzerrt. Es liegt eine merkwürdige, unheimliche Stimmung in der Luft, wie in einem dunklen Wald, ein bisschen wie in einem Horrorfilm. Die Welt wirkt fremd, fast bedrohlich. Als wäre ich tatsächlich durch das falsche Wurmloch geschlüpft, in ein Paralleluniversum, wo die Naturgesetze auf eigentümliche Weise verdreht sind.

Naja, zum Glück bin ich trotzdem verbunden mit dieser Welt. Irgendein Teil meiner 86 Milliarden Neuronen hat nur zufällig keinen Bock mehr, die ihm zugewiesene Aufgabe wahrzunehmen, nämlich mein Selbstempfinden mit der Wahrnehmung der Realität da draußen in Einklang zu bringen. Ist schon okay, dann mach halt Pause. Wir sehen uns wieder.
Ach, das Gehirn ist schon faszinierend. Ein Stück Gehirn von der Größe eines Reiskorns besteht aus etwa einer Million Nervenzellen. Jede steht mit etwa tausend anderen Nervenzellen in Verbindung. Ich finde, es ist gar nicht so erstaunlich, dass wir ein Bewusstsein haben. Bei dem unheimlich faszinierend-megamäßig wunderbaren Organ, was wir im Kopf haben! Manchmal denke ich, wozu Langeweile, wir könnten eigentlich den lieben langen Tag unserem faszinierenden Organ bei der Arbeit zuschauen und würden gar nicht damit hinterherkommen, uns zu wundern.

Fazit ist, Derealisation-Depersonalisation kann unglaublich unangenehm sein. Aber es passiert nichts. Gut, im Traum kann ich fliegen und springe gerne mal von einem Hausdach oder so – aber sowas mache ich in real nicht (zumindest würde ich vorher mit den Armen wedeln und ausprobieren). Es geht immer wieder vorbei und die Welt ist wieder mein Planet, vertraut und mit mir verbunden. Faszinierend, oder? Eigentlich ist es gar nicht selbstverständlich, dass wir uns so ganz mit der Gegenwart, der Umgebung verbunden fühlen und uns mit unserem Körper als „Ich“ identifizieren. Die meisten Menschen kennen Depersonalisation, Derealisation in bestimmten Momenten, bei großer Erschöpfung, manchmal bei Erlebnissen, die uns tief aufwühlen und von den Socken hauen, bei großer Veränderung, durch Drogen, bei mystischen Erfahrungen. Es bringt irgendwie zum Nachdenken. Wenn ich mich als getrennt erleben kann von meinem Körper, von Gedanken und Gefühlen, was ist dann dieses „Ich“? Wo sitzt es? Und wie willkürlich ist unsere Realitätswahrnehmung überhaupt – woher weiß ich eigentlich, dass es kein Traum ist? Was sagt mir das? Wann fühle ich mich mit der Welt verbunden, als Teil von ihr, in ihr beheimatet, geborgen? Und wie kann ich das fördern? Fragen über Fragen, ich fürchte manchmal, wenn ich zu sehr über alles nachdenke, macht mein Bewusstsein tatsächlich eine dissoziative Diffusionsbewegung und zerfließt im luftleeren Raum…